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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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gutes Konzert.« Delia schüttelte den Kopf und kicherte. »Gutes Konzert.« Sie war weit fort, in den Konzerthäusern Europas. Wien, Berlin und noch weiter. »Ich glaube, es hat mein ganzes Leben verändert.«
    Die strahlende Miene des Doktors verfinsterte sich. Er nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein, wo wie von Zauberhand ein Gedeck vor ihm erschien. »Was meinst du damit, Kind, ›ich glaube‹ ? Wenn es dein Leben verändert hätte, dann wüsstest du es doch, oder?«
    »Und ob sie das weiß.« Nettie Ellen feuerte ihre Salve von der Spüle aus, wo sie, den Rücken zu ihnen, das Schlachtfeld aufräumte, das die Kinder hinterlassen hatten. Dr. Daley ließ den Blick von Frau zu Tochter schweifen. Delia konnte nur tun, als sei nichts, und hinter dem wenigen an Gebüsch in Deckung gehen, das die Eltern ihr noch ließen.
    Der Doktor machte sich über sein Frühstück her. Dampf stieg von der braunen Brötchenkruste auf, der Duft der Bratensoße ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wie jeden Morgen breitete er die Zeitung aus. Sein Gesicht blieb unbewegt, als er die folgenschwere Schlagzeile sah. Wie die Brötchen zerlegte er auch die Nachrichten in kleine, gut verdauliche Bissen. Er verzehrte den Bericht über das Epoche machende Konzert mit dem gleichen Appetit, mit dem er Hitlers Bruch des Münchner Abkommens aufnahm und die Ansprüche auf Danzig. Er nahm den ersten Bund der Zeitung auseinander und breitete jeden Bogen vor sich aus, und dann überflog er die Berichte bis zum letzten Artikel auf der letzten Seite.
    »Offenbar war unsere Hauptstadt nicht ganz vorbereitet auf den Ansturm vom gestrigen Abend.« Es war an niemand Speziellen gerichtet oder an alle in Hörweite. »Was meinst du, ist es der Anfang von etwas?« Er sah seine Tochter an. Delia senkte den Blick, auffällig schnell. »Können wir glauben, dass sie es jetzt endlich gehört haben?«
    Delia blickte ihrem Vater ins Gesicht. Sie wartete auf die Frage. Aber anscheinend hatte er sie schon gestellt. Sie versuchte zu nicken, nur eine angedeutete Kopfbewegung, als wolle sie sagen, dass sie verstanden habe.
    Er schüttelte den Kopf und machte sich daran, den ursprünglichen Zustand der Zeitung wieder herzustellen. »Wer weiß schon, was wirklich geschehen muss? Bis jetzt hat nichts geholfen. Warum soll man es nicht mit Singen versuchen, wie in alten Zeiten? Obwohl wir ja auch schon eine Menge gesungen haben.«
    Auf diesen Kommentar des Doktors hin begann Nettie Ellen, noch immer am Spülstein, selbst zu summen, für ihren Mann das Zeichen, dass er zusehen und sich seinerseits anstrengen solle, das tägliche Brot zu verdienen. Auf dem Weg nach draußen warf William seiner Tochter noch einen Blick zu: Wohlwollend, anerkennend, als sei der Triumph des Vorabends ihr eigener gewesen.
    Der Doktor machte sich zu seiner Praxis und den ersten Patienten des Tages auf den Weg. Und damit blieb nur noch das älteste Duo zurück, das es gab: Mutter und Tochter, die sich stillschweigend belauerten, horchten, abwogen, sich duckten, wussten, bevor etwas gesagt war. Nettie spülte, und Delia stand daneben und trocknete ab. Wie es sich gehörte. Wenn man es einfach trocknen ließ, blieben Streifen zurück. Wenn man sein Geschirr ordentlich versorgen wollte, dann musste man es abtrocknen, mit Tuch und Händen.
    Sie waren fertig. Beide kramten weiter, räumten auf. »Ich muss los«, sagte Delia. »Sonst komme ich zu spät zum Unterricht.«
    »Keiner hält dich auf.«
    Delia hängte das Geschirrtuch auf den Halter. Ihre Hände schienen zu sagen: Na dann eben nicht. Sie ging in Richtung Tür und kam immerhin bis zum Herd. »Ach, Mama.« Die Beichte war einfacher, die Worte kamen müheloser, als sie je gedacht hatte.
    Ihre Mutter kam auf sie zu, streckte die Hand aus und strich ihr die
    Haare aus dem Gesicht. Haar, dessen Locken ihnen beiden nun ganz anders vorkamen.
    »Mama ? Wie lange hat es gedauert, bis ... Wie schnell hast du es ge–wusst?«
    Ihre Mutter fasste Delia bei den Schultern. Sie konnte nicht mit ansehen, wie das Kind zitterte. »Lass dir Zeit, Liebes. Was lange währt, wird endlich gut.«
    »Ja, Mama, ich weiß. Aber wie lange ? War da etwas Bestimmtes, nach dem du ... Gewissheit hattest?«
    Die Tochter sah sie mit einem schiefen, gequälten Lächeln an. Es war ein Blick, der vor dem Auge ihrer Mutter wieder die Besucher erscheinen ließ. Enkel, Urenkel, die sich bei jedem neuen Blick vermehrt hatten. Sie drängten sich allesamt um Nettie Ellen

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