Der Klang der Zeit
bekam. Es gab keinen Sarg bei dieser Totenfeier, keinen Leichnam, den man noch begraben konnte. Meine Mutter war bereits eingeäschert worden, auf Weisung eines anderen. Zusammen mit ihr waren auch alle Bilder verbrannt, die wir von ihr hatten. Freunde kamen mit dem Wenigen, was sie an Erinnerungsstücken besaßen, und stellten sie zu ihrem Gedächtnis auf der Anrichte am Eingang auf: Zeitungsausschnitte, Gemeindebriefe, Konzertprogramme – mehr An-denken an meine Mutter, als ich je wieder sehen sollte.
Ich hätte nie gedacht, dass der kleine Saal, den wir gemietet hatten, voll würde, aber bald war kein einziger Platz mehr frei. Auch mein Vater hatte es falsch eingeschätzt und musste noch Klappstühle kommen lassen. Ich war verblüfft, dass meine Mutter überhaupt so viele Men-schen gekannt hatte, und noch mehr, dass sie alle an diesem trüben Sonntagnachmittag mitten im Winter gekommen waren. »Jonah?«, fragte ich ein paar Mal leise. »Jonah, woher kommen all diese Leute?« Er sah sich um und schüttelte den Kopf.
Manche waren um meines Vaters willen gekommen. Ich erkannte etliche seiner Kollegen von der Universität. Hie und da bedeckte eine Jar–mulke einen schon kahlen Schädel. Selbst Pa hatte eine Zeit lang eine auf. Andere kamen Ruth zuliebe, Kinder aus ihrer Schule, Nachbarn, die wir nie richtig gekannt hatten, die aber Freunde von Ruth waren. Die meisten allerdings waren gekommen, um Abschied von meiner Mutter zu nehmen: ihre Gesangschüler, die Mitstreiter aus ihrem Kirchenchor, eine große Zahl von höchst unterschiedlichen Freunden. In meinem Kinderverstand hatte ich Mama immer für eine Fremde in einem fremden Land gehalten. Aber sie hatte sich in ihrem Exil eingerichtet, die Türen weit aufgemacht und gut darin gelebt.
Wir saßen ganz vorne, auf den Ehrenplätzen. Ich drehte mich um und warf einen verstohlenen Blick auf Mutters Trauergemeinde. Meine Augen wanderten über das Farbspektrum. Sämtliche Nuancen, die ich je gesehen hatte, waren in diesem Raum vertreten. Die Gesichter hinter meinem Rücken leuchteten in allen Schattierungen, ein Farbenspiel so flirrend und vielfältig wie die Steinchen eines lichtgesprenkelten Mosaiks. Und jeder Ton unverwechselbar und einmalig. Jedes Gesicht aus einem anderen Holz geschnitzt: hier Mahagoni, dort Nussbaum oder Kiefer. Kupferne und bronzene Verzierungen, ein pfirsichfarbener Akzent, Intarsien aus Elfenbein oder Perlmutt. Der eine oder andere scharfe Kontrast: Schneeweiß wie das Mehl in einer Backstube oder kohlschwarz wie der Maschinenraum auf dem Ozeandampfer Geschichte. Doch in der breiten Mitte des Spektrums drängten sich alle nur denkbaren Brauntöne nebeneinander auf den Klappstühlen des vollbesetzten Saals. Erst durch das Nebeneinander gaben sie sich zu erkennen; Taupe zeigte mit dem Finger auf Bernstein; Ocker wurde zum Kronzeugen gegen Gelbbraun; Rosa und Rotbraun und Teak straften alle Namen Lügen, die man ihnen jemals gegeben hatte. Sämtliche Mischungen von Honig bis Tee, von Kaffeebraun bis Cremefarben – Rehbraun, Fuchsrot, Ebenholz, Fahlbraun, Goldbraun, Schwarzbraun, Beige: Ich hatte keine Worte für all diese Töne. Tannennadelbraun. Tabakbraun. Farbtöne, die bei Tageslicht womöglich kaum zu unterscheiden waren – Kastanienbraun, Zimtbraun, Terrakotta –, hoben sich im Halbdunkel dieses engen Raumes deutlich von ihren Nachbarn ab.
Afrika, Asien, Europa und Amerika waren aufeinander geprallt und hatten dieses Kaleidoskop der Farben hervorgebracht. Einst hatte jede Weltgegend ihre eigene Hautfarbe. Jetzt gab es ein Vielfaches davon. Wie viele Abstufungen waren für das menschliche Auge erkennbar? Diese vieltönige, vielstimmige Symphonie traf auf ein stocktaubes Publikum, das nur Tonika und Dominante heraushörte und sich selbst damit ziemlich schwer tat. Aber all diese Zwischentöne auf der chromatischen Tonleiter waren um meiner Mutter willen gekommen, und viele der dazwischen liegenden Mikrotöne ebenfalls.
Das war mein verstohlener, verbotener Blick nach hinten. Neben mir saß Jonah und reckte den Hals, rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und musterte unverhohlen das Publikum, als ob er jemanden suche. Schließlich befahl ihm Pa mit ungewohnt strenger Stimme: »Lass das sein und sitz still.«
»Wo ist Mamas Familie?«, fragte Jonah, wieder mit kindlicher Sopranstimme. Zahllose Kratzer auf seinem Gesicht zeugten von dem Versuch, sich zu rasieren. »Sind sie das? Sind sie hier? Heute müssen sie doch einfach kommen,
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