Der Klang der Zeit
Stütze, die ihrer Stimme Kraft verlieh. Die Vergangenheit war ein Albtraum, den die Lebenden abschütteln mussten. Die Zeit war reif für die Welt – den richtigen Umgang mit der Welt.
»Das stimmt, Mama. Er ist ... nicht ganz einer von uns.« Und in den Jahrhunderten, die sie plötzlich trennten, gehörte auch sie nicht mehr dazu.
BIST DU BEI MIR
Wir fuhren mit Pa nach Hause. Ich sage »nach Hause«, aber das Haus war nicht mehr da. Wir standen vor dem ausgebrannten Gebäude, starrten den Raureif auf dem schwarzen Stein an. Ich stand in dem Trümmerhaufen und suchte den Ort, an dem ich groß geworden war.
Anfangs glaubte ich, wir seien eine Straße zu weit im Süden. Die beiden Eingänge rechts und links von unserem Haus waren rußgeschwärzt. Unseres sah aus, als hätte sich ein Artilleriegeschoss hineinverirrt. Holz, Stein, Ziegel und Metall – Sachen, die nicht aus unserem Haus kommen konnten – lagen durch– und übereinander. Trotzdem waren alle – unsere Nachbarn, unsere alte Hauswirtin Mrs. Washington, selbst Mrs. Washingtons Jack-Russell-Terrier – lebendig herausgekommen. Alle außer meiner Mutter.
Wir standen so lange vor der Ruine, dass wir fast erfroren wären. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Wir suchten nach dem kleinen Spi–nett, um das wir uns immer zum Singen versammelt hatten, aber nichts in dem Trümmerhaufen ähnelte ihm auch nur. Jonah und ich drückten uns aneinander, stampften mit den Füßen, stießen Atemwolken aus. Wir standen da, bis die Kälte und die Sinnlosigkeit selbst für uns zu viel waren. Schließlich führte Pa uns fort, und wir kehrten nie wieder dorthin zurück.
Ruth kam nicht mit zu diesem letzten Blick. Sie hatte ihren schon hinter sich. Ruthie war die Erste von uns gewesen; sie war nach Hause gekommen und hatte das Haus in Flammen vorgefunden. Der Schulbus konnte nicht in die abgesperrte Straße, und sie war an der Ecke ausgestiegen. Erst als sie sich einen Weg durch die Feuerwehrleute bahnte, konnte sie sehen, welches Haus brannte. Die Männer hatten die brüllende Zehnjährige mit Gewalt von dem Feuer wegzerren müssen. Sie wehrte sich heftig und biss einen von ihnen in die Hand, dass es blutete.
Auch als sie mich sah, brüllte sie. »Ich wollte sie rausholen, Joey. Ich wollte ins Haus. Aber sie haben mich nicht reingelassen. Sie haben sie verbrennen lassen. Ich hab's gesehen.«
»Ruhig, Kind. Deine Mutter war lange tot, als du zum Haus kamst.« Pa meinte es gewiss als Trost.
»Sie hat gebrannt da drin«, beharrte Ruthie. »Sie stand in Flammen.« Meine Schwester war ein anderer Mensch geworden. Das älteste Kind auf Erden. Ihr Atem ging keuchend. Sie fuhr plötzlich zusammen, erschrak vor etwas, das keiner von uns sah. Ich legte den Arm um sie, und sie merkte es nicht einmal.
»Ruhig. Kein Mensch kann in so einem Feuer sein und noch etwas spüren.« Pa hatte zu lange in der Welt der Zahlen und Fakten gelebt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass für ein zehnjähriges Mädchen eine solche Wahrheit vielleicht nicht gut war.
»Ich habe sie gehört«, sagte Ruthie, aber nicht zu uns. »Sie haben mich festgehalten. Sie haben mich nicht zu ihr gelassen.«
»Der Heizer ist explodiert«, erklärte Pa.
»Der was?«
»Der Kocher«, sagte Pa. Er hatte das Wort vergessen. In jeder Sprache.
»Der Heizkessel«, übersetzte ich.
»Die Gasleitung wahrscheinlich. Das Gas ist explodiert. Deshalb kam sie nicht mehr heraus, obwohl es helllichter Tag war.«
Diese Erklärung passte am besten zum Zustand der Trümmer. Noch Wochen später explodierten Dinge in meinen Träumen. Sogar bei Tage. Dinge, vor denen ich nicht davonlaufen konnte, für die ich nicht einmal einen Namen hatte.
Wir zogen in eine winzige Wohnung in Morningside Heights, die ein Kollege meinem Vater überließ, bis wir eine neue Bleibe gefunden hatten. Wir lebten wie Flüchtlinge, angewiesen auf die Almosen anderer. Selbst unsere Klassenkameraden aus Boylston schickten uns Pakete mit abgelegten Kleidern, weil sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten.
Mein Vater organisierte einen Gedenkgottesdienst. Es war das erste und letzte größere gesellschaftliche Ereignis, das er ohne die Hilfe unserer Mutter geregelt
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