Der Klang der Zeit
oder?«
Pa befahl ihm erneut zu schweigen, sprach Deutsch mit ihm. Die Worte schwebten orientierungslos durch den Raum, auf der Suche nach all den Orten, an denen er irgendwann einmal gelebt hatte. Er sprach schnell, vergaß dabei ganz, dass seine Söhne eine andere Muttersprache hatten. Aus dem Wenigen, was ich verstand, reimte ich mir zusammen, dass es in Philadelphia wohl einen eigenen Gottesdienst geben würde, damit dort alle teilnehmen konnten und nicht die weite Fahrt auf sich nehmen mussten. Jonah verstand auch nicht mehr als ich.
Mein Vater trug die selbe Art von zweireihigem, grauem Anzug wie bei seiner Hochzeit, und schon damals waren solche Anzüge seit Ewigkeiten aus der Mode gewesen. Er musterte seine Knie mit dem gleichen fassungslosen Lächeln wie in dem Augenblick, in dem er uns eröffnet hatte, dass unsere Mutter tot war. Ruth saß neben Pa, zupfte an den Ärmeln ihres schwarzen Samtkleids und flüsterte leise vor sich hin, die Haare wirr und struppig.
Ein wohlmeinender, doch überforderter Pfarrer erzählte die Lebensgeschichte meiner Mutter, von der er keine Ahnung hatte. Dann traten Freunde ans Pult und retteten, was nach dieser Grabrede noch zu retten war. Sie erzählten von ihren Mädchenjahren, Geschichten, die ich nie gehört hatte. Sie gaben ihren Eltern Namen, eine Herkunft. Sie erweckten ihre Brüder und Schwestern zum Leben, erinnerten sich an das drei-geschossige Haus in Philadelphia, eine Familienfestung, die ich mir als eine ältere, aus Holz gebaute Variante unseres eigenen Brownstones vorstellte, in dem sie verbrannt war. Die Redner überboten sich im Lobpreis dessen, was sie am meisten an ihr geliebt hatten, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätten sie sich darüber gestritten. Für den einen war es ihre Anmut, für den Nächsten ihr Humor. Ein Dritter nannte ihren unerschütterlichen Glauben daran, dass auch das Schlimmste in uns zur Besserung fähig war. Keiner sprach über das, woran er wirklich dachte. Dass Leute sie angespien hatten in öffentlichen Gebäuden, dass sie ihr Drohbriefe geschrieben hatten, sie gedemütigt hatten Tag für Tag. Keiner sprach von Feuer, von Explosion, davon, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannt war. Kam einer ins Stocken, riefen die anderen ihm neue Stichworte zu, stimmten in die Refrains ein wie bei den Kirchenliedern, die meine Mutter einst gesungen hatte. Ich saß ganz vorn, nickte bei jedem Kommentar, lächelte, wenn Lächeln angebracht schien. Ich hätte es ihnen allen erspart, hätte jeden Einzelnen gebeten, doch sitzen zu bleiben, einfach nichts zu sagen, wenn es in meiner Macht gestanden hätte.
Einer ihrer Gesangschüler, ein Bassbariton namens Mr. Winter, erzählte, wie die Akademie, an der sie sich seinerzeit beworben hatte, ihr die Aufnahme verweigerte. »Keine Gesangstunde verging, in der ich nicht diese armseligen Schwachköpfe dafür gesegnet habe, dass sie Mrs. Strom auf einen anderen Weg brachten. Wenn ich heute über sie Gericht sitzen könnte, würde ich sie zu einem halben Tag Strafe verurteilen. Nur einen halben Tag lang sollten sie sich anhören, welche Töne aus der Kehle dieser Frau kamen.«
Dann war mein Vater an der Reihe, ein paar Worte zu sprechen. Keiner erwartete es von ihm, aber er bestand darauf. Er erhob sich, mit schlotternder Hose und wehenden Rockschößen. Ich versuchte ihn im Aufstehen zurechtzuzupfen, was einen unwillkürlichen Lacher durch die ganze Trauergemeinde laufen ließ. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich hätte all unsere Leben hergegeben, um sie wieder lebendig zu machen, und mich mit Freuden als Erster geopfert.
Mein Vater ging ans Pult. Er neigte den Kopf. Er lächelte, doch er sah sein Publikum nicht an; der fahle Strahl ging in ferne Galaxien. Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch, so wie er es immer tat, wenn er von etwas gerührt war. Und wie jedes Mal verschmierte er sie nur noch mehr. Einen Moment lang kniepte er mit den Augen, halb blind, ein aufgedunsener, pochierter Weißfisch, der verloren in dieser See aus echten Farben schwamm. Wie hatte meine Mutter darüber hinwegsehen können?
Pa setzte seine Brille auf, und sofort war er wieder unser Pa. Die dicken Gläser waren so schwer, dass er den Kopf zur Seite neigte. Die erhobene Seite des Gesichts verzog er zu einem entsetzlichen Grinsen. Er fuchtelte mit der rechten Hand, wie er es oft tat, wenn er einen seiner Vorträge über Relativitätstheorie mit einer lustigen Geschichte über Uhren in
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