Der Klang der Zeit
plötzlich eines, das doch erhalten war: Es war eine Collage, die wir tatsächlich einmal an einem Abend gesungen hatten, höchstens ein paar Zufälligkeiten waren anders. Irgendwie hatte Pa den Namen, so ver-traut, dass er nicht zu retten war, darin bewahrt. Er transkribierte nur, hätte dieses Stück niemals alleine schreiben können. Sie war da als sein Kontrapunkt, steuerte Melodie um Melodie dazu bei. Note für Note holte er sie zurück aus dem Grab. Ihr »Balm in Gilead« übertönte seinen Cherubini. Ihre brahmssche Altrhapsodie zankte sich mit seinem geknurrten Klezmer. Debussy, Tallis, Basie: Sie machten aus der Collage einen eigenen, kurzlebigen Staat, einen, in dem kein Gesetz die Mesalliance, die Rassenmischung verbot. Das war die einzige Komposition, die Pa jemals aufschrieb, sein Versuch einer Antwort auf die mörderische Frage, wo der Fisch und der Vogel ihr unmögliches Nest bauen sollten.
Dann hatten mein Bruder und ich unseren Auftritt. Als das Quodlibet seinem überraschenden, doch logischen Ende zusteuerte, warf ich ihm einen Blick zu. Sein Gesicht war ein Wespennest. Er wollte diesen Auftritt nicht, er wollte nicht vor dieser Zuhörerschar singen. Nicht für sie singen. Nicht jetzt und nicht später. Aber es musste sein.
Das Klavier in dem gemieteten Saal klang dumpf und verstimmt. Die Stimme meines Bruders war spröde und widerwillig. Er hatte auf einem Lied bestanden, das er nicht mehr singen konnte, eine ganze Kindheit zu hoch für seine jetzige Stimme. Ich hatte mit allen Mitteln versucht, ihm die Idee auszureden. Aber Jonah blieb hart. Er wollte den Mahler singen, den er und Mama einst zusammen einstudiert hatten. »Wer hat dies Liedlein erdacht?«
Das sollte sein Gedenklied für sie sein. Zwei Jahre nachdem ihr gemeinsamer Auftritt ihm den Platz in der Akademie verschafft hatte, hatte Jonah sie gebeten, ihn doch lieber nicht zu den Ferien abzuholen. Jetzt war der Quell all seiner Liebe und all seiner Scham gestorben, bevor er den Bann aufheben konnte. Daran würde er tragen bis ans Ende seiner Tage. Nicht einmal Gesang konnte das wieder gutmachen.
Zwei Tage zuvor war er auf die absurde Idee gekommen, das ganze Lied im Falsett zu singen, in der ursprünglichen Sopran-Stimmlage von Des Knaben Wunderhorn, wie ein grotesker Kontratenor, der das Unmögliche versucht und die Zeit umkehren will. Ich machte ihm klar, wie absurd es klingen würde. Wir transponierten es eine Oktave tiefer, und damit ließ es sich, abgesehen von der unauflösbaren Dissonanz – den unschuldigen Worten in der Stimmlage des Verstoßenen –, bewältigen. Was hatte das feine, liebe Mädel in dem hohen Haus schon mit der kühlen, vernünftigen Schwarzen aus Philadelphia gemein, bei lebendigem Leibe verbrannt mit noch nicht einmal vierzig? Aber das Mädchen in dem Lied, das war Mama. Wollte ein anderer etwa bestimmen, wie ihre Söhne sie zu sehen hatten? Der Tod macht alle Rassen gleich. Mehr denn je war sie jetzt dieses Mädel und würde nun für alle Zeit hinausblicken auf die grüne Heide.
Unser Haus war verbrannt und unsere Mutter war tot. Aber wir hatten keinen Leichnam als Beweis. Ich war zu jung, um zu glauben, was ich nicht sah. Mir kam die ganze Versammlung eher wie eine Chorprobe vor, wie die Vorbereitung für das große Fest zu ihrer Wiederkehr. Wer hatte das Liedlein erdacht? Erst als das Mädel in den Bergen die Züge meiner Mutter annahm, konnte ich es wirklich sehen. Und nur in der schroffen Märchensprache meines Vaters reimte sich wund auf gesund:
Mein Herzle ist wund,
Komm, Schätzle, mach's g'sund!
Dein' schwarzbraune Äuglein,
Die hab'n mich verwund't!
Dein rosiger Mund
Macht Herzen gesund.
Macht Jugend verständig,
Macht Tote lebendig ...
Wer hat denn das schön schöne Liedlein erdacht?
Es haben's drei Gäns' übers Wasser gebracht.
Zwei graue und eine weiße!
Und wer das Liedlein nicht singen kann,
Dem wollen sie es pfeifen! Ja.
Ich suchte auf den Tasten dieselben Akkorde zusammen, die sie einst gesucht hatte, drückte sie, wie ihre Finger sie gedrückt hatten. Irgendwie mogelte Jonah sich durch das Lied, erfand die Töne beim Singen. Ich stand ihm zur Seite, Takt für Takt. Keiner nahm mehr wahr, dass er eine Oktave tiefer sang. Er sang, wie andere nur in Gedanken singen. Seine Stimme kam zu den Noten wie eine Biene zur Blume, selbst erstaunt über die Präzision ihres Fluges:
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