Der Klang der Zeit
Daley, mit einem Male die älteste Frau in ganz Amerika.
»Wann ich bei deinem Vater Bescheid gewusst habe? Kind, ich weiß ja bis heute nicht, was ich eigentlich an dem Mann finde.«
Delia atmete tief durch. Sie hatte nichts falsch gemacht. Nichts Schlimmes war geschehen. Ohne jeden Grund machte sie sich zum Nervenbündel. Sie regte sich grundlos auf, wegen nichts. Aber in dem seltenen Augenblick des vergangenen Abends, umgeben von einer Menschenmenge, die alle Rekorde brach, näher an einem historischen Ereignis, als gut für sie war, da hatte sich etwas in ihr verändert. Eine alte Barriere war gefallen. Trunken von der göttlichen Miss Anderson, der Stimme des Jahrhunderts, der Feder, die auf einer Luftsäule schwebte, war Delia auf ihre eigene Reise gegangen, war für kurze Zeit in einem Riss im Gewebe der Töne verschwunden. Eine Öffnung hatte sich aufgetan und sie und diesen unbekannten Deutschen hineingezogen. Gemeinsam waren sie in die Zeit eingetaucht, einen Korridor ohne jede Dimension hinunter an einen fernen Ort, den man, bisher jedenfalls, nicht einmal die Zukunft nennen konnte.
Jetzt, in der mütterlichen Küche, schämte sie sich, weil es jedem anderen vorkommen musste, als hätte sie all das erfunden. Nichts war geschehen. Sie war nirgendwohin gereist. Aber ein Mann war da gewesen, der sie auf dieser Reise ins Nirgendwo begleitet hatte. Das konnte sie sich doch nicht eingebildet haben. Seine Augen waren, als sie sich verabschiedet hatten, ja schon voller Erinnerung daran gewesen.
Als der Nachmittag kam und sie im Krankenhaus die Betten bezog, hatte Delia den Traum schon hinter sich gelassen. In der Gesangstunde am nächsten Tag lag er so weit zurück, dass er ihr schon wieder ins Gesicht starrte. Lugati erzählte ihr wieder von der Atemstütze, dem Ap-poggio, jenem An- und Entspannen der Bauchmuskeln, das nur ein Anatom wirklich begreifen konnte. »Man kann eine Stimme verschleißen«, schärfte Lugati ihr ein. »Wenn Sie sie falsch belasten, ist es in zehn Jahren mit Ihrer Kunst vorbei. Aber richtig damit umgegangen, wird sie ein Leben lang halten.«
Und bei diesen Worten war der Deutsche wieder da, neben ihr. Sie standen wieder in Washington auf der Mall. Der richtige Umgang. Und das hielt, wie es halten musste.
Noch im Laufe der Woche bekam sie Post von ihm. Er fragte, ob er nach Philadelphia kommen dürfe. Delia schrieb ihm ein Dutzend Antwortbriefe, doch nur einen schickte sie ab. Sie trafen sich vor der Independence Hall – auf neutralem Grund – und tauchten wie zuvor in Washington in einer gemischten, gleichgültigen Menge unter.
Fremde drehten sich nach ihnen um. Aber keiner war so fremd wie er. Wieder erhaschten sie wie durch einen Riss einen Blick auf die unerreichbare Zukunft. Wieder waren sie kurz davor, in diese Zukunft einzutreten. Je stärker ihre Gefühle, desto größer die Zweifel. Das Wiedersehen mit dem Mann war kurz, Glück verheißend und verrückt. Aber mehr als ein heimliches Treffen vor der Independence Hall war ausgeschlossen. Das musste auch er begreifen.
»Wann sehen wir uns das nächste Mal?«, fragte er.
»Überhaupt nicht«, antwortete sie und klammerte sich an seinen Arm wie an eine Rettungsleine.
Als er sich verabschiedet hatte, fühlte sie sich wieder leer und wie eine Verbrecherin. Es machte ihr Mut, wie rasch sie seinen Akzent vergaß, wie schwer es ihr fiel, sein Bild heraufzubeschwören. Im Licht ihrer Erinnerung erschien sein fremdartiges Gesicht bernsteinfarben, weniger bleich. Sie würde ihn nicht wieder sehen. Ihr früheres Leben würde zu ihr zurückkehren, einfach, offensichtlich und mit einem klaren Ziel.
Sie fuhr zu einem Treffen nach New York. Ihren Eltern erklärte sie, sie hätte einen Termin zum Vorsingen – die erste nennenswerte Lüge, die sie ihnen je erzählt hatte. Binnen eines Monats wurden die Lügen immer größer. Ihr Geheimnis wuchs, obwohl sie versuchte, es im Keim zu ersticken. Wenn sie nicht beichtete, würde sie sich in diesem Doppelspiel verlieren. Sie musste das Unrecht wieder gutmachen, so gut, wie es ihr manchmal vorkam, wenn sie zusammen waren, die alleinigen Hüter dieses langen Weges außerhalb der bekannten Dimensionen, die ersten Besucher in einer Welt, in die sie auf einer geheimnisvollen Abkürzung gelangt waren, quer über das weite Feld der Zeit. Er kannte ihre Musik. Er liebte ihren Gesang. In seiner Gegenwart war sie sie selbst.
Sie wollte ihrer Mutter alles erzählen. Doch Scham oder Zweifel verschlossen
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