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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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fahrenden Zügen begann oder über Zwillinge, die in Raketen beinahe mit Lichtgeschwindigkeit flogen. Er schüttelte den Kopf noch einmal und öffnete den Mund. Es kam nur ein Krächzen heraus. Die Stimme, die Tausende Male die kompliziertesten Muster gemeistert hatte, in all den mehrstimmigen Liedern, die er mit ihr gesungen hatte. Und jetzt verpasste er den Einsatz.
    Endlich nahm das erste Wort die Hürde des Kehlkopfs. »Es gibt ein altes jüdisches Sprichwort.« Das war nicht mein Vater. Mein Vater stand draußen, umtost von einem entsetzlichen Sturm. »Das Sprichwort heißt: ›Der Vogel und der Fisch können sich verlieben ...‹«
    Wieder nur das Krächzen, das Rascheln von trockenem Schilf an einem Flussufer. Er hielt so lange inne, dass schließlich selbst meine Verlegenheit verging, sich mit aller anderen Anspannung im Raum in Stille auflöste. Noch einmal hob mein Vater den Kopf. Dann murmelte er eine Entschuldigung und setzte sich wieder.
    Wir sangen: Der einzige Teil des Programms, der ihr vielleicht gefallen hätte. Mr. Winter trug »Herr Gott Abrahams« aus Mendelssohns Elias vor. Die beste von Mutters Amateurschülerinnen versuchte sich an Schuberts »Ave Maria«, Miss Andersons Markenzeichen, das meine Mutter seit Mädchentagen nicht mehr gesungen hatte, so sehr hatte sie es geliebt. Die junge Sängerin konnte keinen Ton über dem zweiten E halten, ihr Vibrato war brüchig vom Schmerz, und trotzdem würde sie bei diesem Lied der Vollkommenheit nie wieder so nahe sein.
    Eine nach der anderen, erst einzeln, dann in Gruppen, sangen die Stimmen, mit denen meine Mutter einst gesungen hatte, nun ohne sie. Sie sangen Arien aus Aida. Sie sangen russische Kunstlieder wie tönende Aquarellmalerei. Sie sangen Spirituals, die einzige Volksmusik, die aus vier, fünf, sogar sechs verlorenen und verirrten Stimmen immer wieder zu ihren Harmonien zurückfand. Sie standen auf, sangen spontan einen Gospelsong, die paar Schnipsel Seelenheil, die sie kannten.
    Einen kurzen, flüchtigen Moment lang hörte ich es noch einmal, unser Spiel mit den verrückten Zitaten – das nie endende Liebeswerben meiner Eltern und die erste Gesangschule ihrer Kinder. Nur dass hier der Kontrapunkt zum Stillstand gekommen war und sie alles nacheinander sangen. Die Vielstimmigkeit löste sich auf, Akkorde wurden zu Ton-ketten. Aber etwas von der alten melodischen Vielfalt blieb doch. Und was blieb, war meine Mutter. Sie stammte von mehr Orten ab, als selbst ihre Kinder mit ihrem abenteuerlich gemischten Blut je erreichen konnten, und jeder von diesen so widersprüchlichen Orten hatte seine eigene Erkennungsmelodie. Früher hatten die Stränge miteinander gewetteifert, wollten alle gleichzeitig gehört werden. Jetzt gaben sie die Rangelei auf, stellten sich an und kamen einer nach dem anderen, zurückhaltend geworden im Angesicht des Todes, und jeder ließ dem anderen gern den Vortritt in der langen Ahnenreihe der Zeit.
    Mein Vater versuchte gar nicht erst zu singen. Dafür war er zu klug. Aber stumm blieb er auch nicht. Er hatte ein dreiminütiges Quodlibet zu Papier gebracht, ein Dokument unserer alten Gesangabende, der Abende, die uns damals unendlich vorgekommen und die doch mehr als nur zu Ende gegangen waren. In die drei Minuten packte er alles, was sich nur irgend auf die Ausgangssequenz beziehen ließ. In jedem Universum, das wir uns vorstellen konnten, konnte er dieses Stück nicht in den wenigen Tagen seit ihrem Tod komponiert haben. Aber wenn er es im Voraus geschrieben hatte, dann musste es für genau diesen Anlass gewesen sein.
    Er hatte es für fünf Stimmen gesetzt, als seien noch immer wir fünf die Sänger. Genauso gut hätte er eine Arie für Mama schreiben können. Ein Quintett aus Freunden und Schülern, das sich spontan zusammengefunden hatte, übernahm unseren Part, und wir saßen im stummen Publikum. Bei der Kürze der Probenzeit war ihr Gesang ein Wunder. Sie setzten die Bestandteile von Pas irrwitzigem Pastiche wieder zusammen und machten mit ihrer Virtuosität ein heiteres Abschiedslied daraus. Hätten sie gewusst, was dieses Stück in Wirklichkeit war, so hätten sie es niemals singen können: Das Abendgebet unserer Familie, der Dank für eine Gabe, von der wir glaubten, dass sie uns für immer gehörte.
    Es war ein Bravourstück, das Pa da gelungen war, eine musikalische Rekonstruktion. All unsere alten Zitatenspiele waren tot und verbrannt, so vollständig vernichtet wie jedes Familienalbum. Und hier kam nun

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