Der Klang der Zeit
ihr den Mund. Ein– oder zweimal nahm sie Anlauf, flüchtete sich dann aber doch in ein anderes Thema. Sobald sie versuchte, ihr Geheimnis in Worte zu fassen, verwandelte es sich in etwas Schlechtes. Wie eine vollkommene Frucht begann es zu faulen, sobald es der Luft ausgesetzt wurde. Nach einigen Wochen sah Delia ihrer Mutter nicht mehr in die Augen. Die Lüge fand Eingang in ihren Alltag, hinterließ ihre Spuren auf Dingen, die überhaupt nichts mit dem Mann zu tun hatten. Über jedes noch so unschuldige Kommen und Gehen breitete sich der Mantel der Heimlichtuerei. Selbst die jüngeren Geschwister scheuten vor ihr zurück.
Ihre Mutter wartete schweigend auf ihre Rückkehr. Delia spürte ihre Geduld, ihre Fürsorglichkeit, das unheimliche Wissen, das typisch mütterliche Vertrauen auf ihr Gefühl. Und mit diesem Vertrauen schreckte sie die Tochter ab.
Sie blieb freundlich, bis die Freundlichkeit ihnen beiden die Luft zum Atmen nahm. Eines Abends stieg Nettie zu der kleinen Dachkammer hinauf, die Delia als Probenraum diente. Sie übte mit erzwungener Leichtigkeit eine chromatische Tonfolge an der oberen Grenze ihres Stimmumfangs. Als sie das Klopfen hörte, hielt sie inne. Die Mutter stand mit gefalteten Händen vor der Tür, als hielte sie eine Kaffeetasse oder ein Gebetbuch. Eine Viertelminute lang sahen sie sich schweigend an.
»Sing ruhig weiter. Tu einfach, als wäre ich nicht da.«
Sie stand krumm wie ein Fragezeichen, vorzeitig gealtert, die Schultern gebeugt unter der Last von hundert Jahren unbeantworteter Fragen.
»Mama« war alles, was das Mädchen sagen konnte.
Nettie Ellen betrat die Dachkammer und setzte sich. »Lass mich raten. Er hat kein Geld.«
Delias heimliches Leben sprang aus der Deckung, aufgescheucht aus dem Unterholz. Zorn flammte auf, die Empörung der Schuldigen. Dann löste sich Wut in Tränen auf, und sie fühlte sich so erleichtert wie schon seit Wochen nicht mehr. Sie konnte mit ihrer Mutter reden. Die Kluft vielleicht überbrücken, mit Worten.
»Nein, Mama. Arm ... ist er eigentlich nicht. Es ist ... schlimmer.«
»Er geht nicht in die Kirche.«
Delia senkte den Kopf. Der blanke Fußboden wurde zum Ozean, in dem sie zu ertrinken drohte. »Nein.« Sie schüttelte nur ein einziges den bleischweren Kopf. »Nein, er geht nicht in die Kirche.«
»Na, davon geht die Welt nicht unter.« Eine Art kehliges Glucksen, ganz hinten im Rachen. Nettie Ellens Antwort auf alles, womit man Nachsicht haben musste. »Du weißt doch, mit deinem Vater hatten wir da auch immer unsere Sorgen, und es sieht nicht so aus, als ob er sich plötzlich doch noch aufrafft und fromm wird.«
Nettie lächelte ihre Tochter an, amüsiert über die eigene Langmut. Aber ihr Lächeln wurde nicht erwidert. Delia blieb stumm, ihr ganzer Körper ein einziges Flehen: Frag weiter. Bitte bitte, frag weiter.
»Er ist nicht von hier, stimmt's? Woher kommt er denn?«
Die panische Angst in den Augen ihrer Mutter ließ Delia keine Chance zur Ehrlichkeit. »New York«, sagte sie und sackte noch weiter in sich zusammen.
»New York!« Ihre Mutter begrüßte diesen Aufschub der Katastrophe mit einem törichten Hoffnungsschimmer. »Dem Himmel sei Dank. New York ist einfach. Nach New York kann man zu Fuß gehen. Ich dachte schon, du sagst Mississippi.«
Delia zwang sich zu einem Lachen. Die nächste Lüge.
Ihre Mutter hörte es sofort. Das absolute Gehör, das sie Delia vererbt hatte. »Spann mich nicht auf die Folter. Du musst es mir sagen. Allein komme ich nie drauf. Was kann schon so schlimm sein an diesem Mann? Hat er drei Beine oder was? War er schon fünfmal verheiratet? Spricht er kein Englisch?«
Ein furchtbares, tonloses Kichern: »Ja, das auch.«
Nettie Ellen riss den Kopf in die Höhe. »Wieso? Was spricht er denn?«
Dann ein Blick. Mit weit aufgerissenen Augen. Die längst überfällige Erkenntnis. Kummer, Angst, Verständnislosigkeit, Stolz, das ganze Spektrum: Das weiße Licht ungläubigen Entsetzens war in alle Farben des Regenbogens gebrochen. Die Frage, derentwegen sie eigentlich hier in die Dachkammer gekommen war, starb auf ihren Lippen. Die Frage Liebst du ihn wenigstem?, war plötzlich sinnlos.
»Willst du damit sagen, er ist keiner von uns?«
Die volle Wucht dieser so einfachen, so wahnwitzigen Tatsache. Die Last von Jahrhunderten hob sich von Delias Schultern. Jahrhunderten voller Bosheit und Schlimmerem, voller unbeantworteter Fragen. Sie spürte die lang gesuchte
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