Der Klang des Herzens
Liebes. Ich bin Deirdre Linnet …« Sie versuchte, durchs beschlagene Fenster zu spähen. »Ich nehme an, du bist nicht allein?«
»Mum ist draußen, mit meinem Bruder. Aber jetzt muss ich weiter, der Möbelwagen wartet. Ähm … wo sagten Sie noch mal ist das Haus?«
Asad deutete die Straße hinunter. »Immer da entlang, beim Schild für die Schweinefarm links abbiegen, dann an der Kreuzung rechts und immer den Weg entlang, bis du zu dem Schild ›Vorsicht Schlaglöcher!‹ kommst.«
»Falls ihr was braucht – wir haben bis siebzehn Uhr geöffnet«, fügte Asad hinzu. »Und fahrt vorsichtig; der Weg ist ein bisschen holperig.«
Das Mädchen kritzelte etwas auf den Zettel. »Schweinefarm links, Kreuzung rechts, Straße folgen.« Sie bedankte sich.
»Bis bald«, sagte Henry und reichte Mrs Linnet einen Becher Tee.
Sie warteten, bis die Tür zugefallen war, verharrten eine Anstandssekunde lang und stürzten dann alle ans Fenster. Henry wischte ein Guckloch in die beschlagene Scheibe. Sie beobachteten, wie das Mädchen auf der Beifahrerseite eines ziemlich schäbigen alten Citroën einstieg. Hinter dem Wagen stand brummend ein großer Möbelwagen, dessen Wischerblätter hektisch hin- und herflogen. Hinter der Windschutzscheibe waren verschwommen drei kräftige Männer zu erkennen.
»Na so was!«, sagte Henry. »Junge Leute im Großen Haus.«
»Jung mag sie ja sein«, bemerkte Mrs Linnet missbilligend, »aber deshalb muss man doch seine Schuhe nicht derart vernachlässigen!«
»Schuhe sind wahrscheinlich ihr geringstes Problem«, meinte Henry. »Mal sehen, was die lieben Nachbarn sagen werden.«
Kitty saß stumm neben ihrer Mutter, die sich alle Mühe gab, den Wagen über den holprigen Trampelpfad, der den Namen »Straße« weiß Gott nicht verdiente, zu steuern. Sie blickte dabei immer wieder in den Rückspiegel, zum Möbelwagen, der gefährlich schwankend hinter ihnen herfuhr. Gelegentlich murmelte sie ein Stoßgebet.
»Bist du auch ganz sicher, dass das der richtige Weg ist?«, fragte sie Kitty zum vierten Mal. »Ich kann mich gar nicht an so einen Weg erinnern.«
»An der Kreuzung abbiegen. Ich hab’s extra aufgeschrieben.«
Erneut holperte der Wagen in ein tiefes, mit Wasser gefülltes Schlagloch. Die Stoßstange kratzte über den Boden. Kitty konnte hören, wie die Räder kurz durchdrehten und der
Motor aufheulte. Dann kamen sie mit einem Ruck weiter. Um sie herum ragten hohe, finstere Tannen auf, die dem ohnehin trüben Tag noch mehr Licht nahmen.
»Das kann nicht sein, Kitty. Das kann doch nicht die Straße zum Haus sein. Da braucht man ja einen Traktor.«
Kitty war im Grunde froh, dass die Straße so fürchterlich war. Vielleicht brachte das ihre Mutter ja endlich zur Besinnung. Was für eine Schnapsidee dieser Umzug war. Wochenlang hatte sie gehofft, ihre Mutter würde einsehen, dass sie einen Fehler machte, dass sie doch noch einen Weg finden würde, finanziell so weit über die Runden zu kommen, dass sie das Haus behalten konnten. Aber nein. Kitty hatte ihrer alten Schule, ihren Schulfreunden wohl oder übel Lebewohl sagen müssen, nur um irgendwo aufs Land zu ziehen, wo sie nichts und niemanden kannte. Und das auch noch mitten im Schulhalbjahr. Dass sie mit ihren Freundinnen würde in Verbindung bleiben können, war blanker Unsinn, das war ihr klar, egal, was ihre Mum auch behaupten mochte. Sobald sie nicht mehr da war, um mit ihnen SMS auszutauschen und über den neuesten Schulhofklatsch zu reden, würde man sie schnell vergessen. Selbst wenn sie gelegentlich zu Besuch käme, wäre sie dann nur noch eine Randfigur, nicht mehr up to date, was die neuesten Storys und Modetrends beträfe.
Die Wischerblätter fuhren ruckartig und wie mit letzter Kraft über die Windschutzscheibe. Heute vor einem Jahr bin ich glücklich gewesen, dachte sie. Sie hatte ihr Tagebuch vom letzten Jahr aufgehoben und extra nachgeschaut, daher wusste sie es. Manchmal quälte sie sich mit den Einträgen: »Dad hat mich von der Schule abgeholt. Wir haben Schach gespielt. Ich hab gewonnen. Neighbours war heute echt klasse.«
Wie sie sich wohl heute in einem Jahr fühlen würde? Ob sie dann wieder zurück in London sein würden? Schwer vorstellbar. Ob sie wieder glücklich sein würde? Noch schwerer vorstellbar.
Thierry, der hinten saß, nahm kurz seine Ohrstöpsel raus. »Wir sind fast da, T«, sagte sie.
»Na komm schon, Dolores, ich weiß, dass du das schaffst.«
Kitty zuckte zusammen. Sie hasste es, wenn
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