Der Klang des Herzens
frische Luft nicht vertreiben konnte. Eine Reisetasche über der Schulter, blieb Kitty wie angewurzelt stehen und nahm den Geruch mit einer Art fasziniertem Entsetzen auf.
Das war ja schlimmer, als sie es sich je hätte vorstellen können. Die Diele war mit altem, abblätterndem Linoleum ausgelegt; an den Stellen, an denen es sich gelöst hatte, schimmerte ein undefinierbarer Bodenbelag durch. Eine Tür stand offen und gab den Blick auf eine Tapete frei, die noch aus viktorianischen Zeiten stammen musste. Dort stand auch ein wackeliges Sideboard, wie man es typischerweise in einer Küche aus den Fifties hätte finden können. Zwei Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen und mit Brettern vernagelt, was die Diele
noch düsterer wirken ließ, als sie ohnehin schon war. Von der Decke hing ein Kabel. Ohne Fassung, ohne Glühbirne.
In so einem Haus konnte doch keiner wohnen! Ja es sah nicht mal aus, als ob je einer darin gewohnt hätte. Jetzt muss sie es sehen, dachte Kitty. Jetzt muss sie wieder mit uns nach Hause fahren. Hier können wir unmöglich bleiben.
Aber Isabel gab ihrer Tochter einen Wink. »Komm, lass uns mal nach oben schauen. Und dann suchen wir die Küche und machen uns eine schöne Tasse Tee.«
Die beiden oberen Stockwerke waren kaum besser. Die meisten Zimmer schienen seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein, und einige waren ganz abgeschlossen. Auch hier roch es kalt und modrig, und die Tapete löste sich an manchen Stellen streifenweise von den Wänden. Nur zwei Zimmer schienen überhaupt einigermaßen bewohnbar zu sein: das große Schlafzimmer mit seinen nikotingelben Wänden, dem großen Bett und zwei Schränken voller nach Zigarettenrauch stinkender Männerkleidung. Wenigstens stand hier ein Fernseher. Und ein kleineres Zimmer, gleich daneben, das in den Siebzigerjahren neu hergerichtet worden zu sein schien, womit seine Einrichtung immerhin zwanzig Jahre neuer war als alles andere im Haus. Das Bad sah fürchterlich aus: eine abblätternde alte Badewanne, total verkalkte alte Armaturen. Das Wasser, das spuckend und schlagend aus den Leitungen kam, war dunkel und rostig. Der Holzfußboden im Flur knarrte, ebenso die alten Treppenstufen. Und Mäuse schien es auch zu geben, wofür die winzigen Kotspuren ein Indiz waren.
Jedes Zimmer, jedes Stockwerk brachte neuen Horror. Jetzt muss sie es sehen, dachte Kitty jedes Mal. Sie muss sehen, wie unmöglich das hier ist. Aber ihre Mutter schien mit Blindheit geschlagen zu sein. Gelegentlich murmelte sie etwas vor sich hin, das sich wie »mit ein paar netten Teppichen …« anhörte.
Kitty zählte im ganzen Haus höchstens drei rostige Heizkörper. Und oben im zweiten Stock fehlte über der Diele ein ganzes Stück Decke. Da schauten nackte Balken und Putz heraus, und es tropfte herunter in eine strategisch aufgestellte große Zinkwanne.
Die größte Enttäuschung aber war die Küche. Kitty hätte heulen können. Falls die Küche tatsächlich das Herz eines Hauses war, dann verriet diese hier deutlich, wie hässlich, wie ungeliebt dieses Haus sein musste. Ein langgezogener, rechteckiger Raum, auf einer Seite eine Reihe schmutziger, blinder Fenster. Mehrere breite Steinstufen führten vom Erdgeschoss in die etwas tiefergelegte Küche. Auch hier war es düster, und es roch nach altem, ranzigem Fett. Neben dem alten, verdreckten Spülbecken stand ein ebenso verdreckter alter Kochherd, ein sogenannter Aga, dessen Eisendeckel von einer nicht definierbaren Kombination von Substanzen grau und schmierig war. Auf der anderen Seite stand ein freistehender Elektroherd, zwar nicht ganz so verdreckt, aber offensichtlich ebenfalls nicht gerade liebevoll behandelt. Die Armaturen schienen allesamt aus den Fünfzigerjahren zu stammen, aber in den Küchenregalen, die die Wände säumten, häuften sich immerhin jede Menge Kochutensilien, dazu alte Essensvorräte, die schon ganz verstaubt waren. Auch hier bemerkte Kitty die winzigen Kotspuren, dazwischen die eine oder andere mumifizierte Leiche einer Kellerassel.
»Wie nett«, sagte Isabel betont munter und strich mit dem Finger über den alten Fichtenholztisch, der in der Mitte der Küche stand. »Wir hatten noch nie einen richtig schönen großen Küchentisch, nicht wahr, Schätzchen?«
Über ihnen hievten die Möbelpacker bereits polternd ein schweres Möbelstück herein. Kitty starrte ihre Mutter an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Hier sieht’s aus wie unmittelbar nach dem Krieg, dachte sie, und Mum
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