Der Klang des Herzens
Ärmel die Augen abrieb.
Auf einmal kamen ihr ihre kleinen Siege billig und unwichtig vor. Ihr fiel ein, was eine Kollegin, eine Cellistin, einmal zu ihr gesagt hatte: Du kannst nicht glücklich sein, solange eins deiner Kinder unglücklich ist. Ich muss mich mehr anstrengen, nahm sich Isabel vor. Ich muss uns hier ein Zuhause schaffen, einen Ort, der nicht von dem dominiert wird, was fehlt. Ich bin schließlich alles, was sie noch haben.
Mr Granger, der Kaminkehrer, tauchte ganz wie versprochen noch am selben Nachmittag auf. Er schnalzte nur kurz mit der Zunge und machte sich dann sofort an die Arbeit. Im Nu hatte er drei Kamine gefegt. Und obwohl dabei eine Riesenmenge Ruß herunterkam, machte er keine einzige abfällige Bemerkung. Zwinkernd sagte er zu Thierry, Kamine seien wie Nasenlöcher, sie müssten regelmäßig »mal richtig durchgepustet werden«. Er demonstrierte dies, indem er sich kräftig in ein großes Taschentuch schnäuzte und Thierry dann das schwarze Ergebnis präsentierte. Thierry grinste, aber Kitty schüttelte sich.
Später, als es, wie um diese Jahreszeit üblich, schon recht früh zu dämmern begann und die Kinder mit Mr Granger beschäftigt waren, der ihnen soeben erklärte, wie man ein richtiges
Kaminfeuer macht, zog es Isabel nach oben, aufs Dach. Sie hatte am gestrigen Abend bemerkt, dass dort eine Tür aufs flache Dach hinausführte, und machte sich nun, mit dem riesigen Schlüsselbund bewaffnet, den sie in der Küche an der Wand hatte hängen sehen, auf den Weg.
Sie hatte eigentlich vorgehabt, nur kurz frische Luft zu schnappen und den Ausblick zu genießen, aber kaum erblickte sie den pfirsichfarbenen Sonnenuntergang über dem stillen, kalten blauen See, da wusste sie, was sie jetzt brauchte.
Sie schlüpfte ins Haus zurück und ging ihre Geige holen. Dann trat sie an die Zinnen, legte die Geige in ihre Halsbeuge und begann zu spielen. Sie hatte sich nicht vorher überlegt, was sie spielen wollte, doch nun merkte sie, dass es das Violinkonzert in h-Moll von Edward Elgar war.
Dieses spezielle Musikstück hatte sie eigentlich nie richtig gemocht, fand es zu sentimental. Ihre Kollegen beim Sinfonieorchester waren derselben Meinung: ein hoffnungslos verschlungenes, altmodisches Stück. Doch nun schien es überraschenderweise genau das Richtige zu sein, ja verlangte geradezu, gespielt zu werden. Sie verlor sich in der Musik.
Es ist fast genau ein Jahr her, seit du gestorben bist, Laurent, sagte sie sich. Ich bin hier raufgekommen, um für dich zu spielen. Ein Requiem für alles, was wir beide verloren haben.
Die Noten bekamen ein Eigenleben, wurden tief und leidenschaftlich, schallten weit übers Tal, über die kahle, kalte Landschaft, durch die stille, weiche Luft, auf den Schwingen der Vögel. Sie machte nur wenige Fehler, und die, die sie machte, kümmerten sie nicht. Sie brauchte weder Notenblatt noch Anleitung: Das Concerto, das sie seit über einem Jahr nicht mehr gespielt hatte, strömte ihr wie von selbst aus den Fingern. Im dritten, besonders dramatischen Satz vergaß sie alles um sich herum, verlor sich in der Musik. Laurent , dachte sie, Laurent . Sie glaubte, seine Stimme in dem melodischen
Thema zu hören, verlor sich ganz in der technischen Komplexität des Stücks. Laurent . Keine Tränen diesmal, all ihre Gefühle, ihr Kummer, ihre Wut und Frustration, alles strömte aus ihren Fingern und in die Geige, wurde sublimiert, erlöst.
Der Himmel wurde dunkler, die Luft kälter. Die Noten wurden vom Wind übers Land geweht wie Vögel, wie Hoffnungen, wie Erinnerungen. Laurent , rief sie ihm zu, Laurent , Laurent … und dann hörte selbst das auf. Sie dachte nicht mehr, sie litt nicht mehr, sie spielte.
Asad hievte die Obstkiste in den Laden. Henry sprang hinter der Theke hervor und hielt ihm die Tür auf. »Mrs Linnet hat gerade angerufen«, erzählte er. »Sie sagt, die Neue hat ihr Radio aufgedreht wie eine Wahnsinnige, es schallt durchs ganze Tal. Klingt wie ein Sack voll ertrinkender Katzen, sagt sie. Sie kann kaum ihre ›Kriegsschlager‹ verstehen, die sie um diese Zeit immer im Radio hört. Sie sagt, wenn die das jeden Tag machen sollte, dann ruft sie die Polizei.« Er grinste. »Klang nicht gerade glücklich, die Gute.«
Asad stellte die Kiste beim Obstregal ab. »Das ist kein Radio. Sie hat zweimal unterbrochen. Ich hab zugehört, als der Obstlaster kam. Wenn du rausgehst, kannst du’s selbst hören.«
»Sie spielt, meinst du?«
Asad nickte. »Wenn
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