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Der Klang des Herzens

Titel: Der Klang des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hatte er alle verloren: Häuser, Autos, Lebensstil. Respekt. Und Diana. Und doch hatten Menschen schon Schlimmeres überstanden. Das redete er sich zumindest ein.
    Der Verkehr ließ nun merklich nach, was bewies, dass er die Pendlerzone hinter sich gelassen und das offene Land erreicht hatte. Nicholas drehte das Radio an, ohne sich an dem Rauschen zu stören, das von der kaputten Antenne kam.
    Er hatte sich seinem Ziel mittlerweile so weit genähert, dass die ersten Hinweisschilder mit dem gesuchten Ortsnamen auftauchten. Er war seit Jahren nicht mehr bei Mike Todd gewesen. Vage erinnerte er sich an ein Wochenende in einem geräumigen Cottage voller dunkler Balkendecken im Landhausstil. Extra hohe Decken, hatte Mike stolz verkündet. Nicholas hatte sich trotzdem mehrmals den Kopf angestoßen.
    Er hatte soeben das erste Schild mit dem Hinweis auf Little Barton passiert, als er merkte, dass er es nicht länger aushalten konnte. Er brauchte dringend eine Raststätte oder Tankstelle. Aber er befand sich hier auf dem flachen Lande, konnte nicht einmal ein Pub sehen. Er fuhr noch zwei Meilen weiter, doch dann war Schluss. Kurzerhand bog er nach links in einen
Feldweg ein. Wenn es schon kein ordentliches Klo gab, dann würde er sich eben irgendwo in die Büsche schlagen.
    Aber das bereute er bereits nach den ersten holprigen Metern auf diesem Höllenweg. Leider gab es keinerlei Möglichkeit umzukehren, und er sah sich gezwungen weiterzufahren, über Schlaglöcher, durch Pfützen und über Wurzeln. Einfach anhalten ging auch nicht, denn es hätte ihm ja jemand entgegenkommen können, während er sich gerade erleichterte, und der wäre dann nicht an ihm vorbeigekommen. Endlich fand er eine etwas breitere Stelle, blieb stehen und sprang bei laufendem Motor aus dem Wagen.
    Es gibt nichts Schöneres, als sich endlich zu erleichtern, wenn einem die Blase schon seit mehreren Kilometern zu platzen droht. Nicholas trat von dem Baumstamm zurück und überprüfte kurz, ob er sich auch nicht auf die Schuhe gepinkelt hatte. Dann stieg er wieder ein. Auch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzufahren, weil es einfach keine Stelle gab, die breit genug zum Wenden war. Fluchend versuchte er, die Federung zu schützen, indem er so vorsichtig wie möglich fuhr. Irgendwann muss es ja aufhören, sagte er sich. Alle Wege hören irgendwo auf.
    Er rumpelte über eine Wurzel, und das Chassis knirschte unheilvoll. Nächstes Mal werde ich nicht erst lange suchen, schwor er sich. Dann mache ich’s wie die Fernfahrer. »Nächstes Mal pinkle ich an den Straßenrand«, sagte er laut und fragte sich, ob dies ein Zeichen für ein gesundes Selbstbewusstsein war oder für eine einsetzende Senilität.
    Der Pfad teilte sich; zur Linken war in einiger Entfernung ein ordentlich renoviertes Kutschenhaus zu erkennen. Er fuhr geradeaus weiter. Kurz darauf tauchte über den Bäumen eine Reihe ungleicher Zinnen auf, und er erkannte ein majestätisches Herrenhaus mit einem seltsamen Fassadenmix aus Backstein und Feuerstein. Er trat auf die Bremse und starrte es einen Moment bei laufendem Motor an – aber nicht nur
das Haus, das, wie er sofort erkannte, ein architektonischer Fehlgriff war. Wahrscheinlich eine Narretei aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein schlecht durchdachtes Stück Größenwahn, das rasch in der architektonischen Mülltonne gelandet war. Aber die Umgebung, das Setting! Beschirmt von Wäldern, lag das Haus an einem stillen See. Nicht einmal der zugewachsene Garten und die wilden Hecken konnten verbergen, was früher einmal ein ästhetisch unwiderstehlicher Ausblick auf diese Landschaft, auf die Großartigkeit dieses klassischen Hintergrunds gewesen sein musste.
    Kein Lüftchen störte die glatte, graue Oberfläche des Sees, in dem sich der verhangene Himmel spiegelte. Eine sanft ansteigende, schmale Grasbank umschloss das Ufer, hinter der der Wald begann. Ein herrlicher alter Wald mit altem Baumbestand, überwiegend Eichen und Tannen, deren hohe Wipfel den fernen Horizont des Tals streiften, wo die Farben, wie auf einem impressionistischen Gemälde, diesig ineinander verschwammen. Grandios. Und gleichzeitig beschaulich, intim. Wild und zivilisiert zugleich. Weit genug von der Straße entfernt, um vollkommene Ruhe zu gewährleisten. Aber mit einem ordentlichen Zufahrtsweg …
    Er schaltete den Motor ab und stieg aus, über sich das Flügelschlagen von Wildgänsen, das Rauschen der Bäume. Das war die schönste Umgebung, die er seit Langem

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