Der Klang des Herzens
Taschentuch zurückgeben, merkte jedoch, wie feucht es war, und zog ihre Hand verlegen wieder zurück. »Entschuldigen Sie. So wollen Sie das sicher nicht zurückhaben …«
»Ach, das …« Er winkte ab, als wäre es das Unwichtigste auf der Welt.
Sie packte den Hund am Halsband, blieb aber noch einen Moment mit gesenktem Kopf stehen, um Worte verlegen.
»Dann lasse ich Sie jetzt wohl besser in Frieden«, sagte er,
sichtlich zögernd, als wolle er sie noch nicht verlassen. »Und Sie sind sicher, dass es Ihnen gut geht?«
»Es geht mir gut, danke.«
Auf einmal wurde ihr bewusst, wo sie sich befanden. »Sie wissen, dass dies ein Privatweg ist, oder? Suchen Sie jemanden?«
Nun schaute er sichtlich verlegen drein.
»Ach«, sagte er, »ein Privatweg. Ich muss wohl falsch abgebogen sein. Überrascht mich immer wieder, wie leicht man sich in einem Wald verirren kann.«
»Das ist eine Sackgasse. Was haben Sie hier zu suchen?«
Er schien diese Frage nicht beantworten zu wollen und deutete stattdessen auf sein Auto. »Bloß einen Ort, wo ich in Ruhe meinen Lunch essen kann. Für mich ist hier alles schön. Ich komme aus der Stadt, wissen Sie.« Er schaute sie mit einem so ehrlich entschuldigenden Lächeln an, dass Laura sich wieder entspannte.
Sie musterte seinen feinen, wenn auch schon ein wenig abgetragenen Anzug, die traurigen, gütigen Augen. Und wurde von einem verwegenen Impuls erfasst. Wieso nicht? Wieso sollte sie ein schlechtes Gewissen haben? Nach allem, was Matt ihr angetan hatte?
»Ich kenne da ein hübsches Plätzchen am See, wo es sich gut sitzen und essen lässt«, sagte sie. »Es liegt auf der anderen Seite, nur ein paar Minuten zu Fuß von hier. Wenn Sie Ihren Wagen dort an der Böschung abstellen möchten, könnte ich Sie hinführen.«
Nicht weit davon saß Kitty im stickigen Klassenzimmer, wo sie gerade Geschichte hatte, und hing ihren Gedanken nach. Sie hatte eine Entdeckung gemacht. Eine verstörende Entdeckung. Sie hatte versucht, fair zu sein, so wie Mary es ihr beigebracht hatte, aber wie sie es auch drehte und wendete, die Nachricht konnte nur eines bedeuten.
»Hallo, Mrs Delancey, Cartwright hier. Haben Sie noch mal über meinen Vorschlag nachgedacht? Mr Frobisher hat mich nämlich noch mal angerufen. Er ist nach wie vor sehr an Ihrer Ge… Guar… – an Ihrem Instrument interessiert. Ich weiß nicht, ob Sie meine früheren Nachrichten bekommen haben, aber es wäre ein sehr gutes Angebot – mehr als doppelt so viel, wie Ihr Mann bezahlt hat. Wie gesagt, es würde Ihre finanzielle Situation beträchtlich verbessern …«
Ihre finanzielle Situation beträchtlich verbessern . Kitty konnte sich noch gut an Cartwright erinnern, mit seinem großen, glänzenden Aktenkoffer und seiner Verlegenheit über das Durcheinander im Wohnzimmer. Mum hatte sie aus dem Zimmer geschickt, obwohl sie dem, was der Mann sagte, nicht folgen konnte. Jetzt wusste Kitty, warum. Mum wollte nicht, dass Kitty erfuhr, dass sie doch eine Wahl gehabt hatten. Diese dumme, dumme Geige war ihr trotz allem viel wichtiger als alles andere. Sogar wichtiger als das Glück ihrer Kinder.
Und von Thierry war keine Unterstützung zu erwarten.
»Hast du gehört?«, hatte Kitty ihn gestern Abend in seinem Zimmer gefragt, wo er vor einem Computerspiel saß und mit seinen Daumen einen apokalyptischen Rhythmus in die Steuerung hämmerte. »Hast du was von diesen Anrufen mitgekriegt? Hast du gewusst, dass Mum ihre Geige hätte verkaufen können?«
Er starrte reglos auf den Bildschirm, als wolle er nichts hören.
»Kapierst du denn nicht? Sie wusste, dass sie die Geige hätte verkaufen können, Thierry! Wir hätten gar nicht in dieses Dreckloch hier ziehen müssen. Wir hätten unser Haus vielleicht behalten können.«
Thierry starrte regungslos vor sich hin.
»Hast du mich gehört? Macht es dir denn gar nichts aus, dass Mum uns angelogen hat?«
Da hatte er die Augen zugemacht, als würde er sich wünschen,
dass sie wieder ging. Sie hatte ihm ins Gesicht geschleudert, er sei ein Freak, der immer nur im Mittelpunkt stehen wolle, und war in ihr Zimmer gestürmt, um zu schmollen.
Mum hatte natürlich gemerkt, dass irgendwas nicht stimmte, sich mehrmals nach der Schule erkundigt und gefragt, ob es Kitty gut gehe. Kitty war so sauer gewesen, dass sie sie kaum anschauen konnte. Alles, was sie denken konnte, war, wir könnten noch in unserem Haus in Maida Vale wohnen. In unserer alten Straße, mit den Nachbarn, die wir kennen. Ich
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