Der Klang des Herzens
Backstein, Zentimeter um Zentimeter. Glockenblumen, Tulpen und Hyazinthen brachen büschelweise aus der braunen Erde hervor, in den Ritzen der Terrassenplatten tauchten grüne Triebe auf, aus denen jedoch nach kurzer Zeit stachelige Disteln wurden. Rosetten aus giftigem Kreuzkraut krochen über die Steinplatten, und überall wucherte wildes Hornkraut.
Wochenlanger Regen hatte auf den alten Mauern Moos wachsen lassen, und auch die Hecken schwollen an, durchsetzt von Brombeerranken und Efeu. Der spärliche, ausgetrocknete Winterrasen wurde grün und üppig, Löwenzahn und Butterblumen streckten ihre Köpfe hervor, überwucherten Wege und Auffahrt. Zwei alte Obstbäume kippten einfach um – eine stumme Anklage an Isabels Unfähigkeit, den Garten in den Griff zu bekommen. Auch Tiere folgten diesem Ruf der Natur. Kaninchen buddelten Höhlen in den Rasen, im hohen Gras unsichtbar, und man musste aufpassen, dass man sich
nicht den Knöchel verstauchte. Maulwürfe warfen die Erde auf und setzten auf diese Weise markante Schlusspunkte hinter eine wahre Sinfonie der natürlichen Unbotmäßigkeit.
Drinnen standen die Dinge nicht besser. Matt und seine Komplizen gingen täglich aus und ein, rissen Löcher in Wände und schienen sie auch hie und da wieder zuzumachen. Einige Fortschritte gab es immerhin: Das Dach war nun zum Beispiel dicht, und der Kamin neigte sich nicht länger gefährlich zur Seite. Sie hatten jetzt ein neues Abwassersystem, das Fäkalien aus der Toilette ableitete, ohne dass man sich vor Typhus aus dem Leitungswasser mehr fürchten musste. In einigen Räumen waren neue Böden verlegt, und in der Küche gab es jetzt ein anständiges Spülbecken. Ein paar neue Fenster waren eingesetzt, ein Heizungssystem war teilweise installiert, das gelegentlich für warmes Wasser sorgte und etwas mehr Wärme für den Winter versprach, im Moment jedoch noch auf die neuen Fußböden leckte.
Doch trotz wiederholter dringender Bitten hatten sie noch immer kein funktionstüchtiges Bad und auch keine Steckdose in der Küche, um den Kühlschrank anzuschließen. Das Schlimmste jedoch war der wachsende Stapel Rechnungen und die Kontoauszüge, aus denen die in schwindelnde Höhen steigenden Ausgaben hervorgingen. Dass sie mittlerweile ein kleines Büchlein angelegt hatte, in dem sie die Arbeiten notierte, die Matt für unbedingt nötig hielt, sowie die Kosten, die er dafür veranschlagte, half auch nicht viel. Die vielen Nullen schockierten sie tagtäglich.
Den ganzen Vormittag lang saß sie am Küchentisch und ordnete ihre Kontoauszüge. Nun sah sie schwarz auf weiß, wie es um sie stand. Ihr wurde schwindlig, als stände sie am Rand einer Klippe. Das ist alles, was noch übrig ist, dachte sie. Und es gibt bloß mich. Ich bin für alles verantwortlich. Die Kinder sind von mir abhängig. Aber dass ich damit überfordert sein könnte, auf diesen Gedanken kommen sie wohl nicht.
In diesem Moment betrat Matt die Küche, in der Hand eine Tüte Croissants vom Bäcker. Er ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen.
»Probieren Sie«, forderte er sie auf und hielt ihr ein Croissant unter die Nase. »Die sind köstlich. Los, beißen Sie ab.«
Verlegen öffnete sie den Mund. Ihr war peinlich bewusst, dass sein Blick auf ihre Lippen gerichtet war. Er grinste. »Gut, was?«
Er hatte große, schwielige Arbeiterhände mit breiten Fingern und trockener, rauer Haut. Als sie nickte, lächelte er, als hätte er erwartet, dass sie ihm beipflichtete. Er brachte ihr jetzt öfters etwas mit: guten, echten Bohnenkaffee, damit sie ihm eine Tasse davon machen konnte. Eier, die sie bei einem anderen Einsatz geschenkt bekommen hatten, Schokoladenmuffins und Teegebäck, wenn einer seiner Jungs in die Stadt fuhr. Sie wusste nie, ob sie sich über seine Anwesenheit freuen sollte, da sie bedeutete, nicht mit so unangenehmen Dingen wie Ratten in der Küche, leckenden Rohren oder einem Ofen, der mal wieder versagte, allein fertigwerden zu müssen, oder ob sie sich davor fürchten sollte, denn es schien mittlerweile, als ob er der Herr im Haus war und nicht sie. Er besaß zweifellos Charisma. Immer wieder gelang es ihm, sie zu Dingen zu überreden, die sie gar nicht wollte, einen Weg einzuschlagen, den sie ursprünglich nie im Sinn gehabt hatte.
»Diese Hände!«, rief er aus, als sie erneut zum Hörnchen griff. Byron stand im Türrahmen. »Schau sie dir an, Byron. Hast du je solche Finger gesehen?« Zu ihrer großen Verlegenheit ergriff er einen
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