Der Klang des Herzens
Einkaufen in London, aber Sie haben keine Tüten.«
»Tüten?«, wiederholte Isabel verwirrt.
»Einkaufstüten.«
»Nein«, sagte sie, »diesmal nicht.«
»Ich selbst hab’s ein bisschen übertrieben. Ich fahre nur zweimal im Jahr nach London, und dann mache ich einen richtig schönen Einkauf. Das ist so meine kleine Belohnung.« Sie tätschelte die Plastiktüten, die ihre Beine flankierten, allesamt mit Markennamen, die verrieten, in welche Kanäle Mrs Linnets Erspartes geflossen war. »Meine kleine Belohnung«, wiederholte sie wie zu sich selbst.
»Mir geht’s fürchterlich«, hatte Isabel Mary anvertraut. »Ich hab alles falsch gemacht. Die Kinder sind furchtbar unglücklich. Und es ist alles meine Schuld.«
Mary hatte sich mitfühlend fast die ganze Geschichte angehört (einen bestimmten Teil hatte Isabel bewusst weggelassen) und dann herzlich gelacht, als ob Isabel viel Lärm um nichts machte. »Sie ist ein Teenager, die müssen unglücklich sein, oder sie sind nicht glücklich. Ich finde, du bist bis jetzt sogar eher glimpflich weggekommen. Thierry … na, der wird schon irgendwann wieder anfangen zu reden. Sie sind gut in der Schule. Sie kommen jeden Tag nach Hause. Sie essen. Ihnen scheint’s ganz gut zu gehen. Du bist diejenige, die unglücklich ist.«
»Geschäftlich, was?«
»Wie bitte?«
»Sie waren wohl geschäftlich in London?«
Isabel lächelte schwach. Ihre Augen fühlten sich heiß und sandig an. Sie hatte fast die ganze Nacht lang wach gelegen und spürte nun, wie sehr es ihr an Schlaf fehlte. »So was Ähnliches.«
»Sie sind Musikerin, stimmt’s? Asad hat’s mir erzählt. Er ist keine Tratsche, das sind sie beide nicht, er und Henry, nicht wirklich. Aber Sie haben vielleicht schon gemerkt, dass es in diesem Dorf nicht viel gibt, das nicht früher oder später den Dorfladen durchläuft.«
Isabel fragte sich dumpf, wann ihre Eskapade mit Matt wohl allgemeiner Gesprächsstoff werden würde.
»Ich hab Ihre Anzeige gesehen, wegen des Geigenunterrichts. Ich hab früher ganz passabel gesungen, wissen Sie. Mein Mann sagt immer, ich hätte Sängerin werden können. Aber dann kamen die Kinder…« Sie seufzte. »Sie wissen ja, wie das ist.«
Isabel wandte den Kopf zum Fenster. »Ja.«
»Du solltest wieder arbeiten gehen«, hatte Mary ihr geraten. Sie hatte den Kaffee bezahlt, was Isabel als unerträgliche Demütigung empfand. »Du solltest wieder bei deinem Orchester spielen, wenigstens tageweise. Dann verdienst du wieder was und bist nicht mehr so unglücklich. Du kannst sie ruhig mal einen Tag lang allein lassen. Kitty ist mittlerweile alt genug, um auf ihren Bruder aufzupassen.« Sie hatte Isabel umarmt und war gegangen, den Kinderwagen vor sich herschiebend, zurück zu ihrer neuen Familie, der sie nun das Leben erleichterte und nicht mehr den Delanceys.
Der Zug passierte die letzte Station vor Long Barton. Mrs Linnet stand auf und sammelte geschäftig ihre Tüten ein, obwohl es viel zu früh dafür war. Dann verließ sie das Abteil und ging zur Tür. Isabel sah die mittlerweile vertrauten Landmarken an sich vorbeiziehen – Kirche, Häuser und die Hauptstraße, von der zwischen den Bäumen ein Stückchen zu sehen war.
Ihr Blick fiel auf die sattgrünen Böschungen, die üppig sprießenden Hecken. Sie fragte sich, was es wohl brauchte, bis man sich irgendwo heimisch fühlte.
Erst als sie im Bahnhof von Long Barton einfuhren und Isabel sich erhob, tat sie etwas, das sie sich geschworen hatte, nicht zu tun: Sie streckte ihre Hand nach einem Geigenkasten aus, der nicht mehr da war.
Als sie nach Hause kam, saßen die Kinder vorm Fernseher. Kitty lümmelte auf dem Sofa, die Beine auf den Sofatisch gelegt, und aß eine Tüte Chips. Thierry fläzte sich auf einem alten Fernsehsessel. Seine Schulkrawatte lag zusammengeringelt daneben auf dem Boden.
»Du warst nicht da«, sagte Kitty anklagend. »Und Matt auch nicht. Wir mussten den Schlüssel unter der Matte nehmen, um überhaupt reinzukommen.«
Isabel legte ihre Schultertasche auf einem Beistelltischchen ab. »Thierry, hast du dein Pausenbrot gegessen?«
Die Augen nicht vom Fernseher abwendend, nickte ihr Sohn.
»Das ganze Brot?«
Seine Augen huschten kurz zu ihr hin, dann nickte er wieder. Es war so still und friedlich im Haus. Was natürlich daran lag, dass die Handwerker nicht da waren, wie Isabel erst jetzt klar wurde. Selbst wenn sie nicht rumhämmerten oder bohrten, verbreiteten sie eine Unruhe, eine Vibration im ganzen
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