Der Klang des Herzens
Blick über ihre Schulter, auf ihren Bruder. »Ich meine, ich könnte schon noch ein bisschen länger hierbleiben. Wenn Thierry das möchte.«
In diesem Moment fragte sich Isabel, ob sie ihre rätselhaften, unberechenbaren Kinder je verstehen würde. Sie holte tief Luft.
»Na gut«, sagte sie. »Wir bezahlen Mr McCarthy, was wir ihm schulden, und dann sehen wir weiter. Aber zumindest stehen uns jetzt mehrere Möglichkeiten offen. Und nun«, sie erhob sich, »mache ich mich mal an diesen Papierkram hier.«
Hinter den großen Wohnzimmerfenstern ging langsam die Sonne unter, und die Kinder schalteten den Fernseher wieder ein. Isabel setzte sich an den Tisch und begann die Post zu öffnen, vor der sie sich bis jetzt gedrückt hatte. Sie schrieb eine Liste von Dingen, die erledigt werden mussten. Den Verlust ihrer Geige empfand sie fast wie den Verlust eines Arms oder Beins. Ihr graute vor der Zukunft, vor den langen Monaten ohne ihre geliebte, kostbare Geige. Und dennoch. So seltsam es ihr auch erschien, es ging ihr besser als seit Langem.
Er hat Nein gesagt, rief sie sich ins Gedächtnis zurück und warf beim Öffnen eines weiteren Kuverts einen verstohlenen
Blick auf ihren Sohn. Das ist immer noch besser als gar nichts.
»Sie hat einfach schrecklich ausgesehen«, verkündete Mrs Linnet genüsslich. »Bleich wie ein Gespenst, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Hat während der letzten zwei Stationen kaum mehr ein Wort zu mir gesagt.«
Asad und Henry tauschten einen Blick. Mrs Linnets Geschichten übten auf ihre Gesprächspartner nicht immer die Wirkung aus, die sie sich erhoffte.
»Dieses Haus wird sie zugrunde richten. Irgendwann kriegt sie einen Nervenzusammenbruch. Habt ihr gehört, dass neulich eine Zimmerdecke runtergekracht ist? Da hätte wer weiß was passieren können. Ihre Kinder hätten darunter stehen können.«
»Aber das haben sie nicht«, entgegnete Henry. »Es ist also nichts passiert.«
»Ich weiß nicht, was sich dieser Matt McCarthy eigentlich denkt. Ein Mann mit seiner Erfahrung! Ich würde so ein Haus doch erst mal absichern, wenn ich er wäre. Besonders, wo dort Kinder rumlaufen.«
»Das möchte man meinen«, sagte Asad, der gerade Kassensturz machte.
»Ach, so was passiert sicher nicht noch mal«, warf Henry ein.
»Ich würde mich ja nicht wundern, wenn Samuel Pottisworths Geist dahintersteckt. Kann mir gut vorstellen, dass der da in dem großen alten Haus noch umgeht.« Mrs Linnet schüttelte sich dramatisch.
»Also, Mrs L, Sie glauben doch nicht an Gespenster!«, sagte Henry vorwurfsvoll.
»An böse Geister aber schon, nicht wahr, Henry?« Asad wickelte ein Gummiband um ein Bündel Geldscheine.
»Bevor ich an was glaube, brauche ich Beweise, Asad«,
sagte Henry und schenkte seinem Partner einen bedeutungsvollen Blick.
»Ach, es gibt Erscheinungen, die viel zu clever für so was sind.«
»Und es gibt Leute, die Dinge sehen, die’s gar nicht gibt.«
Mrs Linnet vergaß für einen Augenblick ihre spannende Geschichte und starrte die beiden mit offenem Mund an.
Asad schob die Kassenschublade zu. »Es gehört zu deinen vielen liebenswerten Eigenschaften, dass du in jedem Menschen immer nur das Gute sehen willst, Henry, aber das macht dich manchmal blind für die Realität.«
»Ich weiß ganz genau, was läuft, aber ich bin der Meinung, dass man sich aus Dingen raushalten sollte, die einen nichts angehen.«
» Das Böse kann nur bestehen, weil gute Menschen danebenstehen und nichts tun.«
»Aber du hast keine Beweise .«
Mrs Linnet stellte ihre Tasche ab. »Hab ich was verpasst?«
In diesem Moment ging die Tür auf, und Anthony McCarthy trat ein. Dass die Anwesenden bei seinem Anblick verstummten und Blicke tauschten, bemerkte er nicht, da er am Handy telefonierte. Mrs Linnet fiel ein, dass sie ja Marmelade kaufen wollte, und die beiden Männer machten sich geflissentlich hinter der Theke zu schaffen.
»Guten Tag, Anthony.« Asad lächelte. »Wie kann ich dir behilflich sein?«
»Hm, ja.« Er ging vor der Frischtheke in die Hocke und biss sich auf die Lippe. »Mum hat gesagt, ich soll Oliven mitbringen und geräucherten Truthahn und noch irgendwas.« Er grinste. »Aber ich hab vergessen, was.«
»Ihr Männer«, bemerkte Mrs Linnet von hinter dem Marmeladenregal, »ihr seid doch alle gleich.«
»Käse?«, schlug Asad vor.
»Obst?« Henry hielt einen Korb hoch. »Die Trauben sind heute besonders gut.«
»Brot?«
Der Junge ist seiner Mutter so ähnlich, fand
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