Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Ellas kleinem Haus wie ein gefangenes Reh von der Tür zur Wand und wieder zurück. Unterdessen saß Chloe neben Ella auf dem Bett und versuchte, die verzweifelte Frau zu trösten. Der kleine Evan schlief, während Sean an dem schmalen, wackeligen Tisch saß und sich auf die Schreibaufgaben konzentrierte, die Chloe ihm gegeben hatte.
„Warum dauert das so lange?“, murmelte Norah vor sich hin und warf einen Blick zur offen stehenden Tür hinaus. Zwischen den feuchten Pflastersteinen ragte das frische Grün von Löwenzahn hervor und einzelne Grashalme reckten sich hoffnungsvoll den hellen Sonnenstrahlen entgegen. Eine zerzauste braune Katze strich vorbei und sprang mit einem geschmeidigen Satz über den angrenzenden Bretterzaun. Norah wandte sich ungeduldig wieder in das schummerige Innere des Hauses hinein.
„Du warst doch erst gestern Morgen mit deiner Bitte bei Miss Andrews, Norah. Wer weiß, wie lange es dauert, bis sie etwas erreichen kann“, versuchte Chloe die aufgeregte junge Frau zu beruhigen.
Norah presste die Lippen aufeinander. Natürlich hatte Chloe recht, aber sie hasste es, tatenlos herumzusitzen, während die arme Katie irgendwo festgehalten wurde. Sie wollte der Kleinen sofort helfen, und jede Stunde, die verstrich, bereitete ihr innere Qualen. Katie befand sich irgendwo in einem fremden Haus bei fremden Menschen, vielleicht auch völlig allein, und stand sicher schreckliche Ängste aus.
„Wenn er Katie … wie Susan …“, hörte sie Ella flüstern, und dann brach diese erneut in Tränen aus.
Chloe zog die Frau noch fester in ihre Arme. Dabei sah sie mit Tränen in den Augen Norah an. Sie fühlten sich alle so schrecklich hilflos, und Norah dazu noch schuldbewusst. Ihretwegen war das alles geschehen!
Als habe Chloe ihr diese Gedanken vom Gesicht ablesen können, streckte sie ihre Hand nach Norah aus, die aber schon wieder in Richtung Tür eilte. „Es ist nicht deine Schuld, Sternchen.“
Norah wischte sich die Tränen aus den Augen und warf Chloe über die Schulter hinweg einen zweifelnden Blick zu.
Erneut schluchzte Ella laut auf, und Sean warf wütend seinen Stift hin, der daraufhin vom Tisch fiel und über den Boden bis unters Bett rollte. „Warum tut denn niemand was?“, brüllte er aufgebracht und schob heftig seinen Stuhl zurück.
„Sean, setz dich hin“, wies Chloe ihn ruhig an, und tatsächlich gehorchte der Junge. Evan erwachte durch den Lärm und wimmerte leise, was seine Mutter veranlasste, sich aus Chloes Armen zu lösen und das Baby hochzuheben. Norah hatte das Gefühl, als knotete es ihr den Magen zusammen, denn Ellas Augen waren vom Weinen rot unterlaufen, und ihre Hände, mit denen sie das Baby hochhob, zitterten. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Die Stewardess wandte sich ab. Ella hatte schon ihren Mann verloren. Es durfte einfach nicht sein, dass ihr auch noch ihre kleine Tochter genommen wurde. Gott durfte es nicht zulassen, schoss es ihr durch den Kopf. Seufzend lehnte sie sich an den Türrahmen und drückte ihre Stirn an das raue Holz. Sie wusste, sie durfte Gott mit ihren Bitten bestürmen, aber die letzte Entscheidung lag immer noch bei ihm. Es geschahen viele Dinge in dieser Welt, deren Sinn sie nicht verstand.
„Eines Tages wirst du mir so manches erklären müssen“, flüsterte sie und fühlte sich bei dem Gedanken erstaunlich befreit. Nicht alles, was um sie herum geschah, lag in ihrem Einflussbereich, selbst wenn ihr die Verantwortung für viele Menschen ans Herz gelegt worden war. Das war ein tröstender Gedanke, und mit neuem Mut im Herzen hob sie den Kopf.
„Miss Casey? Miss Andrews schickt mich“, drang eine männliche Stimme von draußen herein.
Norah wirbelte herum. Jetzt konnten sie endlich etwas für Katie tun!
Richard wartete, bis der Steward sein Gedeck abgetragen hatte, und lehnte sich dann behaglich in dem mit rotem Leder bezogenen Mahagonistuhl zurück. Selten hatte er eine so reichhaltige und gleichzeitig so hervorragend zubereitete Mahlzeit zu sich genommen. Er betrachtete den noch halb vollen Teller seines Tischnachbarn. Deutlich waren der blaue, von zwei gegeneinanderstehenden weißen Dreiecken unterbrochene Rand und die zweifarbigen Blumen auf dem weißen Porzellan zu sehen. Richard lächelte, als er an Norahs Begeisterung dachte, mit der sie ihm unter anderem erzählt hatte, dass sagenhafte 30.000 Teller an Bord gebracht worden waren.
Mit seinen Gedanken bei der Irin verließ er den Speisesaal im D-Deck
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