Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
dem Queen’s Square genannt wird.“
Ihre Verblüffung steigerte sich noch, als Helena erneut abwinkte. Sie erhob sich so anmutig, wie nur die jungen Ladys der besseren Gesellschaft sich zu bewegen lernten, und streckte Norah die Hand entgegen. „Es geht um das Leben eines unschuldigen kleinen Mädchens, Miss Casey. Ein solches Schicksal trifft jede Frau mitten ins Herz. Und auch Ihre Bemühungen um die beiden anderen Mädchen waren ausgesprochen ehrenhaft. Sollte es mich da nicht mit Stolz erfüllen, wenn mein Name in Zusammenhang mit der Rettung dieser Mädchen genannt wird?“
„Ben Beckett, Miss Helena? Das ist ein Mann mit sehr zweifelhaftem Ruf. Ein ehemaliger Londoner Polizist, der unehrenhaft entlassen wurde.“ Emily reagierte erwartungsgemäß betroffen auf Helenas Idee.
„Und jetzt führt er hier in Irland private Ermittlungen durch“, gab Helena ungerührt zurück und bürstete weiter ihr schimmerndes Haar.
Emily legte das weinrote Kleid mit dem schwarzen Chiffonüberrock über die hohe Stuhllehne und suchte in einer Schublade nach der passenden Schulterschärpe und den Handschuhen. Missbilligend runzelte sie die Stirn. Es wunderte sie nicht, dass Helena diesem Mädchen helfen wollte. Sie kannte ihren Schützling gut genug, um zu ahnen, dass es dabei in der Hauptsache wieder einmal darum ging, Helenas Eltern vor den Kopf zu stoßen – und das Ganze hatte mit ihrem neuesten Opfer, diesem Mr Martin, zu tun. Helena war es vermutlich vollkommen gleichgültig oder sogar sehr recht, wenn sie mit zweifelhaften Personen wie Beckett, diesem Freudenhausinhaber Ryan oder anderen zwielichtigen Kreaturen aus der Hafengegend in Zusammenhang gebracht wurde.
Sie half der jungen Lady in das von ihr ausgewählte kostbare Kleid, das dazu gedacht war, auf einem gesellschaftlichen Ereignis getragen zu werden, nicht jedoch am frühen Morgen. Helena wollte mit dieser Robe freilich den Privatdetektiv beeindrucken, der demnächst eintreffen sollte. Emily seufzte leise, während sie die Knöpfe im Rücken von Helenas Kleid schloss. Die junge Dame wusste nur zu genau, wie sie ihre gottgegebene Schönheit dem männlichen Geschlecht gegenüber gezielt zur Durchsetzung ihrer Wünsche einsetzen konnte.
Gerade als Emily die letzten Kämme in die aufgesteckten Haare schob, klopfte es an der Tür, und Sarah streckte den Kopf herein. „Mr Beckett ist da. Er erwartet Sie im Foyer, Miss Andrews.“
„Ich komme“, erwiderte Helena und erhob sich augenblicklich. Sie trat vor den in dunkles Holz gefassten, verschnörkelten Standspiegel, drehte sich einmal nach links und einmal nach rechts und verschwand dann zufrieden lächelnd durch die Tür.
Emily verließ die von Helena während ihres Aufenthaltes in Ormiston House bewohnten Räumlichkeiten und schloss energisch die Tür hinter sich. Sie empfand große Erleichterung darüber, dass Helena mehrere edle Kleider bei einem Londoner Schneider bestellt hatte. Diese kostspieligen Extras hatten die gesamten von ihren Eltern zur Verfügung gestellten Geldmittel dieses Monats aufgebraucht. Ansonsten würde sie sich jetzt vermutlich mit der jungen Dame auf dem riesigen, von Thomas Andrews entworfenen Schiff befinden, von dem alle behaupteten, es sei unsinkbar. Emily hatte Angst vor diesem größenwahnsinnigen Koloss, zumal sie die Worte Ismays, „Nicht einmal Gott kann dieses Schiff versenken!“, für gotteslästerlich hielt.
Emily stieg die Stufen hinunter und warf einen prüfenden Blick in die Halle. Ihr Schützling saß auf demselben Platz wie vor zwei Stunden, als sie sich mit Norah Casey unterhalten hatte. Helena lachte und flirtete ungeniert mit Mr Beckett, dem schon jetzt dieser verräterische Glanz in den Augen stand.
Auf den ersten Blick mochte es Helena hoch anzurechnen sein, dass sie sich dieses verschwundenen Mädchens annahm, zumal ein Telegramm, das auf der Titanic aufgegeben und im Belfaster Haus der Pirries mit der Bitte um Weiterleitung abgegeben worden war, besagte, dass Richard Martin versehentlich auf dem Schiff geblieben war. Er konnte demnach Helenas Einsatz gar nicht würdigen – zumindest, bis er zurückkam.
Doch bis dahin, so stand zu befürchten, würden sowohl diese nette, immerzu freundliche Norah als auch ein fünfjähriges Mädchen unter die Räder gekommen sein. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass die Miss nahezu über die sprichwörtlichen Leichen ging, um ihren Willen durchzusetzen.
Kapitel 30
Seit nunmehr über einer Stunde lief Norah in
Weitere Kostenlose Bücher