Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
und machte sich auf den Weg hinauf zum Bootsdeck der zweiten Klasse. An der Reling verharrte er, betrachtete das unendlich erscheinende Meer und fragte sich, wann die Möwen wohl das Schiff verlassen hatten. Lange hing er seinen Gedanken nach, überlegte, wann er auf ihrer etwa eine Woche dauernden Überfahrt nach New York Norah treffen würde und wie sich wohl seine Heimreise regeln ließ. Es hatte kein Problem dargestellt, ihn als zusätzlichen Passagier an Bord zu haben; Mr Andrews hatte sich über seinen unfreiwilligen Aufenthalt vielmehr weidlich amüsiert. Sollte die Titanic jedoch auf der Rückfahrt in Richtung Europa voll ausgebucht sein, würde er sich wohl nach einem anderen Schiff umsehen müssen.
Ein Passagier ging vom vorderen Bereich des Bootsdecks, der der ersten Klasse vorbehalten war, in den hinteren Bereich und kam auf ihn zu. Richard erkannte in ihm Mr Andrews. Der Mann schlenderte gemessenen Schrittes über die Schiffsplanken und sah sich suchend um, wobei er freundlich die Passagiere grüßte, die auf ihn aufmerksam wurden. Schließlich blieb sein Blick an Richard hängen und mit einem erfreuten Lächeln auf den Lippen kam er näher. Richard schüttelte ihm zur Begrüßung die Hand.
„Mr Martin, fühlen Sie sich als unfreiwillig Reisender wohl an Bord der Titanic ?“
„Wie könnte man sich auf einem so großartigen Schiff unwohl fühlen, Mr Andrews? So königlich erging es wohl noch keinem blinden Passagier!“
Mr Andrews lachte und bedachte eine an ihnen vorbeiflanierende ältere Dame mit einer höflichen Verbeugung. „Ab dieser Minute sind Sie kein blinder Passagier mehr, sondern ein hochoffizieller. Sozusagen ein Abgesandter der Firma Welte, von der White Star Line zur technischen Betreuung der pneumatischen Instrumente beauftragt. Ihre Anwesenheit ist tatsächlich von großem Vorteil. Wir haben n ämlich einen … nun, sagen wir, neuen ‚Patienten‘ für Sie.“
Richard runzelte die Stirn. Hatte eines der Klaviere etwa bereits einen Defekt?
Mr Andrews deutete einladend mit der Hand in Richtung der nächstgelegenen Tür. „Keine Sorge, Mr Martin. Das Problem liegt nicht an der zweifelsohne hervorragenden Qualität der Instrumente, sondern an ein paar neugierigen Jungen.“
Richard ahnte, von welchen Jungen Mr Andrews sprach, und sein Verdacht bestätigte sich, als er sich kurz darauf im Speisesaal der zweiten Klasse wiederfand. Das defekte Klavier war genau das, mit dem er sich so lange und konzentriert beschäftigt hatte, dass er ihm letztendlich seine Anwesenheit hier verdankte.
Wie Orgelpfeifen nebeneinander aufgereiht standen die Jungen, die ihm bei der Reparatur neugierig über die Schulter geschaut hatten, mit gesenkten Köpfen an der Wand hinter dem Klavier und rührten sich nicht.
Einer von ihnen – derjenige, der Richard auf Deutsch angesprochen hatte – hatte eine gerötete Wange. Vermutlich hatte sein Vater ihm bereits eine Abreibung verpasst.
Der Instrumentenbauer besah sich den Schaden und wandte sich dann an die vier Jungen. Da sie noch immer die Köpfe tief gesenkt hielten, ging Richard vor ihnen in die Knie, damit er in ihre Gesichter sah.
„Halb so schlimm, das kann ich reparieren“, erklärte er erst auf Englisch, was ihm ein erleichtertes Grinsen der beiden Dunkelhaarigen einbrachte, und dann auf Deutsch. Auch der Kleinste von ihnen, der strohblondes Haar hatte, lächelte nun und bedankte sich in einer Sprache, die Richard nicht verstand. Der Semmelblonde rieb sich mit der flachen Hand über seine gerötete, schmerzende Wange und schwieg.
„Bitte lasst in Zukunft eure Finger von den Klavieren. Das sind sehr wertvolle und teure Instrumente.“ Richard schmunzelte in sich hinein. Er war in ihrem Alter wohl kaum weniger neugierig gewesen.
„Okay“, flüsterten die beiden Engländer, während der deutsche Bursche endlich den Kopf hob. „Kann ich helfen?“, wollte er wissen und verleitete Richard zu einem Lächeln.
„Aus sicherem Abstand, ja“, nickte er und richtete sich wieder auf.
Ein etwa zwölfjähriges Mädchen in einem Matrosenkleid und mit streng gescheiteltem blondem Haar löste sich von der Gruppe der etwas abseits stehenden Erwachsenen und näherte sich ihnen. Sie legte den beiden Dunkelhaarigen je einen Arm um die Schultern. „Ich möchte mich für James’ und Jonathans Verhalten entschuldigen, Sir“, sagte sie leise auf Englisch, und ihr hübsches, kindliches Gesicht wirkte sehr betroffen.
Zu ernst , ging es Richard durch den
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