Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
diesem Ryan zu entgehen, hatte sie ihr Zuhause gemieden und war bei ihrer Freundin untergekommen. Noch lag die Gasse düster und in einen feinen, zwischen den Häusern liegenden Dunst eingehüllt vor ihr. Allerdings ließ der Himmel bereits durch sein freundliches Blau erahnen, dass es ein schöner, sonniger Frühlingstag werden würde.
Über die niedrigen Dächer hinweg flogen ein paar weiße Möwen und stießen laute, schrille Schreie aus, ehe sie alle mit einer Windböe davonstoben.
Norah zog sich die weite Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht und trat vom schlammigen Rand der Gasse in ihre Mitte. Ohne aufzublicken ging sie mit schnellen Schritten durch das verwinkelte Labyrinth dieses Stadtteils zu den besseren, breiteren Straßen mit den viktorianischen Gebäuden. Die schlanken, hellen Säulen und gewellten Verzierungen an den Firsten wurden von der langsam höher steigenden Sonne angestrahlt und leuchteten mit den spiegelnden Fensterscheiben um die Wette.
Schließlich erreichte die junge Frau den schmiedeeisernen Gartenzaun, der das Grundstück von Lord Pirrie und seiner Familie begrenzte. Ihre Schritte wurden zögerlicher, als sie über den gepflegten Rasen mit den im leichten Wind nickenden Tulpenköpfen hinweg auf das große, herrschaftliche Haus blickte.
Ob es richtig war, Helena um Hilfe zu bitten – falls sie sich überhaupt noch im Haus der Pirries aufhielt? Aber wie sonst konnte Norah Ella und Katie helfen? Hier ging es nicht mehr um die Rachegedanken dieses Ryan. Bei den Mellows-Schwestern war sie sich nie hundertprozentig sicher gewesen, ob der Bordell-Eigentümer tatsächlich hinter ihrem Verschwinden und den Verletzungen von Susan steckte. Doch jetzt hatte dieser Mann ein unschuldiges kleines Mädchen entführt und damit dem ganzen Unheil eine neue, erschreckende Dimension hinzugefügt. Norah war bewusst, dass sie dringend Hilfe brauchte. Vor allem die Hilfe der Polizei, die sich vermutlich nicht gerade darum riss, einem Kind aus den schmutzigen Gassen beizustehen. Sie war darauf angewiesen, dass jemand mit guten Beziehungen ihr mit ihrem Anliegen half.
Norah atmete tief durch und griff nach der Klinke. Sie öffnete das Tor einen Spaltbreit, schlüpfte hindurch und eilte den Weg hinauf zum Haus.
Nachdem der tiefe Klang der Glocke verhallt war, wurde ihr die Tür von Sarah, Susans Pflegerin, geöffnet.
„Miss Norah?“
Erleichtert darüber, ein vertrautes Gesicht zu sehen, sprudelte Norah sofort mit dem heraus, was geschehen war.
Sarah hörte ihr geduldig zu und fragte schließlich: „Sie wollen mit Miss Andrews sprechen? Sie haben Glück. Heute Nacht ist sie zurückgekehrt. Allerdings ist sie noch nicht aufgestanden, Miss Norah.“
„Miss Andrews war fort und ist wieder zurückgekommen?“, fragte Norah verwundert nach. Sie empfand es als ungewöhnlich, dass die junge Frau schon wieder die Gastfreundschaft der Pirries in Anspruch nahm, obwohl sie zwischenzeitlich anscheinend fort gewesen war.
„Ja, ihre Zofe erzählte, sie sei in London und in Southampton gewesen.“
Norah biss sich auf die Unterlippe und wandte sich ab. Ihr Blick schweifte über den gepflegten Park mit den großen Flächen roter, gelber und weißer Tulpenblüten. Helena war Richard nachgereist, das stand für Norah fest. Offenbar empfand die Frau mehr für den Deutschen, als sie angenommen hatte, denn bisher war ihr Helenas Bewunderung höchstens wie eine oberflächliche Schwärmerei vorgekommen. Ob es unter diesen Umständen wirklich sinnvoll war, sich mit ihrer Bitte ausgerechnet an diese Frau zu wenden?
Deutlich verunsichert drehte Norah sich wieder zu Sarah um. Welche andere Möglichkeit blieb ihr denn? Wenn sie ohne die Unterstützung einer in der Gesellschaft angesehenen Persönlichkeit zur Polizei ging … wie ernst würde dort ihr Anliegen behandelt werden, und vor allem, wie ernst würde man ihre Verdachtsmomente nehmen? Nachdem Helena ja bereits Susan und Leah geholfen hatte, bestand die Chance, dass auch das Schicksal eines verschleppten kleinen Mädchens sie nicht unberührt ließ.
„Darf ich eintreten?“, fragte sie Sarah, und schon war sie an ihr vorbeigeschlüpft und trat über die Schwelle in den vornehmen Empfangsraum des Hauses.
Ein Diener eilte auf sie zu und schnell nahm Norah ihren Umhang ab. Darunter kam eines ihrer guten Reisekleider zum Vorschein, woraufhin sich der missbilligende Blick des Mannes sofort erhellte.
Norah bat darum, dass man Helena weckte, und erstaunlicherweise
Weitere Kostenlose Bücher