Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Steuerbords war offensichtlich schon früher mit dem Bemannen und Hinunterlassen der Rettungsboote begonnen worden. Drei von ihnen schaukelten bereits auf dem dunklen Wasser, und die Insassen versuchten, vom Schiffsrumpf fortzurudern, während ein viertes Boot gerade abgefiert wurde. Richard ballte die Hände zu Fäusten, als er in das Rettungsboot schaute. Er schätzte, dass etwa 40 Personen Platz darin gehabt hätten – hinuntergelassen wurde es aber mit nur zwei Frauen, drei Männern und sieben Besatzungsmitgliedern.
Richard beugte sich weit über die Brüstung und sah mit Schrecken, wie weit die Titanic inzwischen mit dem Bug abgetaucht war. Der Wasserspiegel leckte schon fast am Namenszug. Dies erklärte auch, weshalb er nur noch unter Schwierigkeiten aufrecht gehen konnte. Er wurde auf zwei hilflos wirkende ältere Damen aufmerksam, die offenbar den Weg hinab nicht fanden, und geleitete sie zu den Rettungsbooten auf das Promenadendeck, wo sie sich überschwänglich bei ihm für seine Hilfe bedankten.
Richard blieb erst einmal auf diesem Deck, zumal ihm eine junge Frau in einem einfachen Mantel mit einem hübschen blonden Kleinkind auf dem Arm auffiel. Sie stand abseits von den anderen Frauen und Kindern und wirkte seltsam unbeteiligt. Es schien, als warte sie auf etwas oder jemanden. Gerade, als sie einen Schritt auf das Rettungsboot zu machen wollte, tauchten zwei Damen mit gewaltigen Hüten und Pelzmänteln neben ihr auf, und sie trat wieder zurück.
Richard runzelte die Stirn und ging auf die junge Mutter zu. Das Kind, ein Mädchen mit sorgfältig geflochtenen Zöpfen, lächelte ihn fröhlich an. Es schien keinerlei Angst zu verspüren. „Madam, gehen Sie doch zu dem Boot“, forderte Richard die Frau auf.
Diese sah ihn mit einem prüfenden Blick an und schüttelte dann entschieden den Kopf. „Nein, Sir. Erst kommen die Leute aus der ersten und der zweiten Klasse an die Reihe. Dann sind wir dran.“
„In den Rettungsbooten gibt es keine Klasseneinteilung. Sie dürfen sich sofort anstellen.“
Entrüstet über diese Vorstellung schüttelte die Frau den Kopf. „Erst die erste, dann die zweite Klasse, Sir. So ist es immer.“
„Jetzt nicht, Madam. Kommen Sie, ich begleite Sie bis nach vorne.“
Wieder schüttelte die Frau den Kopf und warf ihm einen beinahe zornigen Blick zu. „Ich kann nicht einfach die Regeln brechen, Sir. Es ist mir schon unangenehm, dass ich in den Bereich der ersten Klasse eindringen musste. Ich warte hier, bis alle Passagiere der anderen Klassen in den Booten sind.“
Mit geballten Fäusten beobachtete Richard, wie sie weitere Frauen, Kinder und sogar Männer vorließ und das Rettungsboot abgefiert wurde. Schließlich hatte er genug. Er nahm der Frau das kleine Mädchen aus dem Arm und ging mit großen Schritten auf das nächste Rettungsboot zu.
Die Mutter folgte ihm erschrocken. „Geben Sie mir meine Tochter zurück!“, rief sie aufgebracht, doch er ließ sich nicht beirren. Er übergab das Kind entschlossen einem Matrosen, der es einer anderen Frau in das Ruderboot hinunterreichte. Ohne weitere Widerworte folgte die Mutter, stieg ins Boot, nahm das Kind auf ihren Schoß und machte sich so klein wie möglich. Ehe Richard sich abwandte, fing er sich von ihr einen letzten vorwurfsvollen Blick ein.
Inzwischen wurde es auf Deck deutlich lauter und unruhiger. Offenbar brachte die immer stärker werdende Neigung des Liners in Richtung Bug die Leute endlich doch auf den Gedanken, das „unsinkbare“ Schiff könnte gerade dabei sein, vom eiskalten Atlantik verschlungen zu werden.
Richard kämpfte sich weiter in Richtung Heck durch, da er dort ein paar seiner Bekannten aus der zweiten Klasse zu treffen hoffte, mit denen er gemeinsam ein Boot nehmen konnte. Für einen Moment kam Adam in sein Blickfeld. Der Matrose war mit dem Bemannen eines Bootes beschäftigt.
Plötzlich packte jemand Richard fest am Arm, und als er sich umwandte, schaute er in die weit aufgerissenen Augen von Ruth Becker. „Mr Martin, ich konnte nicht mit meiner Mutter und den Geschwistern in das Rettungsboot“, rief sie ihm über das Dröhnen des ausströmenden Dampfes weit oben an den Schornsteinen und die laut gerufenen Anweisungen der Mannschaft zu. Tränen schimmerten in ihren Augen. „Der Offizier meinte, es sei voll!“
Richard ergriff Ruths Arm und schob sie zwischen den nun vehement zu den Booten drängenden Menschenmassen hindurch vor sich her. Wieder dachte er an Adams Warnung bezüglich der
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