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Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Titel: Der Klang des Pianos: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Büchle
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wie sich zwei Heizer in Richtung Notleiter verdrückten. Vermutlich hatte das der eine oder andere in Kesselraum 2 und 3 ebenfalls getan, denn er nahm den verwaisten Platz eines anderen Heizers an den sogenannten Hafen- oder Eselskesseln ein.
    Als er die erste Schaufel Kohle in den geöffneten Kessel warf, wusste er, dass er mit diesem Schiff untergehen würde.
    Dylans Gedanken wanderten zu Eve und eine schmerzlich-süße Trauer übermannte ihn. Er hätte sie gerne noch einmal in den Armen gehalten und sich von ihr verabschiedet, sie ermutigt, indem er ihr sagte, dass sie auch ohne ihn ihr Leben meistern würde. Sie war zwar eine zarte Person, aber mit viel Mut gesegnet. Adams scherzhafte Ermahnung, er solle Eve endlich heiraten, damit sie ihm viele kleine, süße Mädchen schenken könne, kam ihm in den Sinn. Das würde nie geschehen. Die Endgültigkeit dieser Feststellung trieb ihm die Tränen in die Augen. Er dachte an seine Schwester, die er seit Monaten nicht mehr besucht hatte, und an seine Eltern. Norah fiel ihm ein, und trotz seiner mühsam unterdrückten Angst spürte er einen Funken von Erleichterung darüber, dass sie nicht an Bord war.
    Was aber würde mit Adam und Richard geschehen? Wenigstens sie mussten eine Chance haben. Sie sollten diesem eiskalten, dunklen Grab entkommen! Schon aus diesem Grund würde er hier aushalten und den Ingenieuren helfen, die Titanic so lange wie möglich über Wasser zu halten!
    Mit zusammengebissenen Zähnen schaufelte er weiter, und bei jeder Ladung, die er in die Öffnung warf, murmelte er ein Gebet. Er wollte nicht sterben, doch er war vorbereitet auf den Tod.

    Richard stand auf der Backbordseite des Schiffes und sah über die Reling hinunter auf das Promenadendeck, wo Offiziere und Besatzung Frauen und Kindern in die Boote halfen. Das Umsteigen gestaltete sich schwierig, da sich zwischen der Bordwand und den Rettungsbooten ein breiter Spalt befand. Dieser wurde mit Deckstühlen notdürftig überbrückt, doch die wacklige Konstruktion schreckte so manche Frau ab.
    Der Zweite Offizier Lightoller sorgte penibel dafür, dass ausschließlich Frauen und Kinder in das Rettungsboot Nummer 6 stiegen. Die Männer verabschiedeten sich ruhig von ihren Familien und traten zurück. Manche riefen ihren Frauen vom Deck über ihnen beruhigend zu, sie würden das nächste Boot nehmen. Andere erklärten, dass sie sich später wiedersehen würden. Richard, von Adam über die prekäre Lage des Schiffs ins Bild gesetzt, fragte sich, ob sie ihren eigenen Worten tatsächlich Glauben schenkten. Ein Vater versprach seinem Sohn, dass sie am Morgen mit den Eisbrocken auf dem Vorschiff Fußball spielen würden.
    Lightoller drehte sich um und rief über die Köpfe der Helfer und abwartenden Männer hinweg: „Sind hier noch mehr Frauen?“
    Der Ruf wurde weitergegeben, doch es meldeten sich keine weiteren Frauen und Kinder mehr. Also drehte der Offizier sich um, hob beide Hände und befahl das Abfieren des Rettungsbootes.
    Richard dachte an Adams Worte und runzelte die Stirn. Was er sah, behagte ihm gar nicht. Die Titanic beförderte etwa 2.200 Passagiere, und dieses Boot, das für 65 Personen gedacht war, wurde mit 26 Frauen und zwei Besatzungsmitgliedern in die Tiefe gelassen?
    Als das Rettungsboot bereits halb abgefiert war, kam von unten der Ruf einer Frau, dass sie kaum Mannschaft dabeihätten. Richard beobachtete, wie Lightoller das Gesicht verzog und sich umsah. Er hatte zum Abfieren nur zwei Matrosen bei sich, und die konnte er schwerlich entbehren. Was also sollte er tun? Aus der wartenden Menge trat ein Mann hervor und bot an, am Fallreep hinunterzuklettern. Er erklärte, er sei Segler und könne sicher dabei helfen, das Rettungsboot zu navigieren. Lightoller nickte ihm zustimmend zu.
    Richard sah nicht mehr, ob dem Mann das gefährliche Manöver gelang. Immerhin schätzte er den Abstand zwischen dem Deck und der Wasseroberfläche auf rund 23 Meter. Er lief über das Deck auf die Steuerbordseite. Irgendwo mussten doch all die Frauen und Kinder aus der zweiten und dritten Klasse sein?
    Durch die vielen Absperrungen und Verschanzungen, die er umgehen musste, dauerte es unverhältnismäßig lange, bis er die andere Seite des Decks erreichte. Dort sah man es mit dem Gebot „Frauen und Kinder zuerst“ offenbar nicht ganz so eng, denn er beobachtete, wie in eines der Boote gerade ein paar Männer stiegen.
    Schließlich erreichte er die diesseitige Reling und blickte an der Bordwand hinunter.

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