Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Augen, da ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien.
„Wenn wir schnell laufen, können wir sie vielleicht noch unten aus dem Weiher fischen“, schlug er mit belustigtem Tonfall vor.
„Ja, sicher“, meinte sie träge.
Richard wandte den Blick von den in der Sonne hell blinkenden Wellen zu ihr. Noch immer waren ihre Augen geschlossen, und die zarten Gesichtszüge wirkten entspannt. Er betrachtete sie intensiv, und wieder einmal begeisterte ihn diese innere Gelassenheit, die sie allerdings in den letzten Tagen selten einmal ausgestrahlt hatte. Diese Frau war wesentlich vielschichtiger, als er bisher angenommen hatte. In ein Schema ließ sie sich tatsächlich nicht pressen, ganz anders als die Klavierteile, die nach seinen detaillierten Vorgaben angefertigt wurden und immer perfekt funktionierten.
„Sie werden doch nicht etwa müde sein, Norah? Seit Tagen hetzen Sie mich durch die Gegend und scheinen niemals eine Pause zu brauchen.“
„Sie werden mich doch nicht soeben tatsächlich bei meinem Vornamen genannt haben, Richard?“, gab sie schlagfertig zurück, blinzelte ihm kurz zu, schloss aber die Augen wieder.
„Ihre Einschätzung meiner Person hat mich ein wenig aus dem Konzept gebracht.“
„Dann ist es ja gut“, kicherte sie leise.
Richard schwieg. In Norahs Gegenwart fühlte er sich furchtbar … alt. Wann war er so freudlos geworden? Früher hatten seine Schwestern und er doch auch mit Begeisterung gelacht, gesungen und ihre Späße miteinander getrieben. Er hatte ihre Lieder am Klavier begleitet, und seine Mutter hatte immer wieder einmal ihre Geige hervorgeholt, um sich ihm anzuschließen. Allerdings war er selbst es gewesen, der seine Jugend möglichst schnell hatte hinter sich lassen wollen. Schließlich gab es da sein Ziel, das er vor Augen hatte, für das er sich anstrengte und all seine Zeit opferte.
Richard schob seine Überlegungen energisch beiseite und wandte sich wieder seiner Schutzbefohlenen zu. Diese richtete sich in diesem Moment auf und sah etwas bekümmert auf ihre nackten Füße hinunter.
„Ich könnte Ihnen meine Schuhe leihen“, bot Richard an.
„Das sind keine Schuhe, sondern Geigenkästen. Außerdem gehe ich gern barfuß. Dennoch vielen Dank für Ihr Angebot. Können wir unseren Spaziergang nun fortsetzen?“
„Sie wollen noch weitergehen?“
„Na, sehr weit sind wir ja noch nicht gekommen.“
„Dank Ihrer Eskapaden!“
Sie lachte, sprang mit einem Satz auf die Füße und winkte ihm, ihr zu folgen.
Entgegen der Fließrichtung des wilden Wasserlaufs wanderten sie zwischen den weit in die Höhe emporragenden Felswänden und Baumriesen hindurch. Schmetterlinge und Libellen begleiteten ihren Weg, und hoch über ihren Köpfen zogen Raubvögel ihre Kreise.
Richard folgte Norah eine Zeit lang ebenfalls ohne Schuhe, doch als der Pfad immer steiniger wurde, setzte er sich auf einen Felsen und nahm den Rucksack ab. „Ich ziehe mir meine Schuhe wieder an“, rief er ihr nach, da sie unaufhaltsam weiter die Felswand hinaufstrebte.
„Sie holen mich ja wieder ein“, gab sie zurück, ohne sich umzudrehen, und stieg weiter bergauf.
„Das bezweifle ich“, murmelte er vor sich hin, wobei ein Lächeln seine Lippen umspielte. Es war ihm nahezu unmöglich, sich nicht von ihrem Elan und ihrer Fröhlichkeit anstecken zu lassen.
Mit den Handflächen säuberte er sich notdürftig seine Fußsohlen, bevor er die Socken aus der Hosentasche zog und sorgsam ausschüttelte. Er zog sie an und schlüpfte in die Schuhe. Gewissenhaft fädelte er die Schnürsenkel durch die seitlich offenen Klammern und verknotete sie. Gerade als er damit fertig war, drang ein lauter Schrei zu ihm herüber. Sein Kopf ruckte erschrocken in die Höhe, während der Schrei mehrfach von den Schluchtwänden zurückgeworfen wurde. Norah musste etwas zugestoßen sein! Das Entsetzen durchflutete ihn wie ein brodelnder Lavastrom, der ihn mit sich zu reißen drohte. Ohne den Rucksack aufzunehmen rannte er los.
Richard nahm seine Hände zu Hilfe, als er auf dem schmalen Pfad die steile Wand hinaufkletterte. Gesteinsbrocken lösten sich unter seinen Füßen und rollten polternd den Hang hinunter. Das Sprühwasser vom Wasserfall benetzte den Pfad, weshalb er mehrmals auf dem nassen Untergrund ausglitt. Endlich erreichte er die Anhöhe. Dort führte der Pfad gefährlich nah am steil abfallenden Rand entlang; nur ein einfaches Seil bot eine notdürftige Begrenzung.
Der junge Mann ignorierte diese Hilfe und rannte in
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