Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
halsbrecherischer Geschwindigkeit auf dem schmalen Weg weiter. Was war mit Norah passiert? War sie ausgerutscht? In die Tiefe gestürzt?
Richard umrundete einen Baumstamm, der mitten auf dem Pfad stand – und prallte gegen einen Körper. Erleichtert sah er auf, doch vor ihm stand ein männlicher Wanderer. Keuchend fragte Richard: „Haben Sie das Mädchen gesehen? Was ist mit ihr?“
Der Mann schob sich eilig an ihm vorbei und murmelte dabei etwas, das Richard nicht verstand. Einen Moment lang sah Richard ihm verwirrt nach, wie er mit großen Schritten weiterlief. War dies nicht dieselbe Person, die erst kurz vor ihnen in die Schlucht eingestiegen war?
Richard hastete weiter. Das stete Brausen des Wasserlaufs schwoll zu einem Donnern an. Direkt unterhalb des Pfades stürzte die Ravenna steil über eine Klippe in die Tiefe.
Keuchend blieb Richard stehen. Vor ihm lag eine einfache Holzbrücke, und der Weg war gut einsehbar. Weiter als bis hierher konnte Norah in der kurzen Zeit unmöglich vorangekommen sein! Wo steckte sie nur?
Vorsichtigen Schrittes näherte er sich dem Rand der Klippe. Weiße Gischt stieg aus der Tiefe empor wie Rauch aus einem brodelnden Kochtopf. „Norah?!“, rief er, so laut er konnte.
Eine überraschend nah klingende Stimme antwortete ihm: „Ich bin hier!“
Richard legte sich flach auf den Boden, was auf dem schmalen Pfad und bei seiner Körpergröße nicht eben ein einfaches Unterfangen war, und schob sich mit dem Oberkörper über die scharf abfallende Kante hinaus.
Direkt unter sich erblickte er Norah. Sie kauerte auf einem Felsvorsprung, und als sie ihn sah, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das aber schnell wieder verschwand. Richard jedoch spürte unendliche Erleichterung in sich aufkeimen. Das Mädchen schien mit dem Schrecken davongekommen zu sein.
Langsam beruhigte sich sein Herzschlag, und er verdrängte die bereits in ihm aufgekommenen Überlegungen, wie er den Weltes und Bokischs einen schlimmen Unfall ihrer Verwandten erklären sollte. Immerhin hatte er Norah sträflicherweise allein vorangehen lassen. Wenn der jungen Frau etwas zugestoßen wäre, wäre Richard wohl seines Lebens nicht mehr froh geworden. Er wusste, dass es Unsinn war, immer sofort vom Schlechtesten auszugehen und sich die Zukunft in den düstersten Farben auszumalen, doch er konnte dieser Sichtweise, die er sich in den schrecklichen Jahren des Hungers und während seiner Militärzeit angeeignet hatte, einfach nichts entgegensetzen.
„Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Richard“, rief Norah zu ihm hinauf.
„Reichen Sie mir Ihre Hände. Ich ziehe Sie hoch“, wies er sie an und streckte seine Arme über die Felskante hinaus.
Als sie die Hände hob, konnte er mühelos ihre Handgelenke umfassen. Er robbte rückwärts von der Felskante fort, und Norah half mit Füßen und Knien mit, sodass sie bald wieder den sicheren Pfad erreichte.
Mit einem erleichterten Aufseufzen ließ sie sich einfach fallen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Böschung und senkte heftig atmend den Kopf. Die vom Wasserfall aufsteigende Gischt hatte ihre Kleidung nun vollständig durchnässt, einer ihrer Knöchel war blutig geschlagen, und ihre schwarzen Haare kringelten sich unter dem schief auf dem Kopf sitzenden, breitrandigen Strohhut frech hervor.
„Was ist denn passiert?“, erkundigte Richard sich, noch immer außer Atem, und kniete sich vor ihr nieder.
„Nichts. Mir geht es gut.“ Norahs Antwort war nur ein Flüstern; für ihn kaum verständlich, zumal sie den Kopf gesenkt hielt.
„Ob Sie sich da nicht täuschen?“ Richard musterte bestürzt den aufgeschürften Knöchel, der sicherlich scheußlich schmerzte. „Und wer war dieser Mann?“, fragte er, da er einen Zusammenhang zwischen ihrem Sturz und dem seltsamen Benehmen des einsamen Wanderers vermutete.
„Ich kenne ihn nicht.“
„Hat er etwas mit Ihrem Sturz zu tun?“
Für einen kleinen Augenblick streifte ihn ein für sie ganz untypisch hilfloser Blick, ehe sie die Augen und schließlich den Kopf wieder senkte.
Wenn Richard – im Gegensatz zu seinem Gegenüber – eine Eigenschaft bis zur Perfektion kultiviert hatte, dann war es Geduld. Also ließ er sich einfach neben ihr auf dem felsigen Weg nieder und schwieg ebenfalls.
In Gedanken ging er die wenigen Minuten, seit er den Schrei gehört hatte, bis zu diesem Augenblick noch einmal durch, und er war sich sicher, dass Norah und der Fremde sich begegnet sein mussten.
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