Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)

Titel: Der Klang des Pianos: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Büchle
Vom Netzwerk:
Zumindest Norahs Aufschrei hätte der Mann hören müssen. Er versuchte, sich die gemurmelten Worte des Mannes wieder ins Gedächtnis zu rufen und grübelte darüber nach, welche Sprache er wohl gesprochen haben könnte.
    Norah wurde während dieser langen Zeit des Schweigens zunehmend unruhiger. Sie begann, eine Strähne ihrer feuchten Locken um einen ihrer Finger zu wickeln, dann strich sie sich vorsichtig über ihren verletzten Knöchel und schob schließlich den gesunden Fuß nervös vor und zurück.
    „Seltsam“, murmelte er schließlich. „Eine Schlucht in Deutschland … menschenleer … und da begegnen sich ausgerechnet zwei Iren. Der eine von ihnen stürzt in die Tiefe, der andere macht sich auf und davon.“ Er musterte sie durchdringend, um ihre Reaktion zu beobachten. Wusste sie mehr, als sie zuzugeben bereit war? „Was soll ich davon halten, Norah Casey?“
    „Es hört sich wie eine ziemlich schlechte Geschichte an“, gab sie kleinlaut zurück.
    „Eine gefährliche Geschichte – zumindest für eine der beiden Personen.“
    Erneut versank Norah in Schweigen, bevor sie, noch immer auf den Boden starrend, sehr leise fragte: „Woher wissen Sie, dass er ein Ire war?“
    „Ich habe ihn angesprochen, seine Antwort aber nicht verstanden. Im Nachhinein meine ich, er könnte Gälisch gesprochen haben.“
    „Haben Sie überhaupt schon einmal jemanden Gälisch sprechen hören?“
    Richard wollte ihr sagen, wie ausgeprägt ihr Akzent gelegentlich war und dass sie öfters in diese Sprache verfiel, doch er ließ es auf sich beruhen. Es war ganz offensichtlich, dass Norah ihre heitere, direkte Offenheit zumindest für den Augenblick verloren hatte.
    Vielleicht trug nicht nur er ungute Erinnerungen mit sich herum, die seine Gegenwart und wohl auch seine Zukunft beeinflussten. Norah mochte ein übermütiger Springinsfeld sein, doch in den letzten Wochen oder Monaten musste in ihrem Leben etwas Schlimmes geschehen sein, das wohl in Zusammenhang mit diesem Mann stand, vermutete Richard. Entweder war sie nicht bereit, mit ihm darüber zu sprechen, oder ihre rasante, quirlige Art ließ tiefer gehende Gedanken und Überlegungen nicht zu, sodass sie sich damit gar nicht erst beschäftigte. Allerdings konnte das für sie gefährlich werden, wie das soeben Erlebte bewies.
    Besorgt hob Richard den Kopf und sah sich um. Sie waren wieder allein, doch jetzt wirkten die Tannen dunkel und schwankten bedrohlich hin und her. Das Tosen des Wassers klang wie ein warnendes Grollen und die Felshänge ragten kalt und gefährlich in die Höhe. Selbst das eben noch silbrig glitzernde Wasser wirkte bleigrau und den aufsteigenden Wasserdunst empfand er als unangenehm kalt.
    Richard musterte die zusammengekauerte Gestalt neben sich. Norah hielt noch immer den Kopf gesenkt und hatte das Bein mit dem verletzten Knöchel vorsichtig von sich gestreckt. Sie zitterte am ganzen Körper. Es schmerzte ihn regelrecht, sie so zu sehen. Zwar ließen ihr unermüdlicher Tatendrang und ihre scheinbar unbegrenzte Neugier ihn gelegentlich den Kopf schütteln, doch die verstörte Hilflosigkeit, die sie nun an den Tag legte, passte so gar nicht zu ihr.
    Er erhob sich umgehend und knöpfte sich sein Hemd auf. Es gehörte sich zwar nicht, in Gegenwart einer Dame nur mit einem Unterhemd bekleidet zu sein, doch er konnte Norah unmöglich weiter so frieren lassen. Mit einer sanften Geste legte er ihr das Hemd um die Schultern.
    Sie hob den Kopf und blickte ihn dankbar an. Schließlich stand auch sie auf und schlüpfte mit den Armen in die Hemdsärmel.
    „Weit gekommen sind wir ja nicht“, sagte sie zu ihm und klang schon nicht mehr so bedrückt wie zuvor.
    „Bleiben Sie am besten hinter mir. Es ist hier sehr glatt“, wies er sie an, und diesmal widersprach sie nicht und drückte sich auch nicht eilig an ihm vorbei.
    Schritt für Schritt tasteten sie sich den Abhang hinunter, bewältigten den Abstieg zwischen den Felsen hindurch und kamen dann an den weniger steilen und felsigen Abschnitt des Weges, den sie zuvor schon in die entgegengesetzte Richtung gewandert waren.

Kapitel 6
    Richard bog mit dem knatternden Horch Phaeton in Richtung Freiburg ab und warf seiner immer noch ungewohnt schweigsamen Beifahrerin einen prüfenden Blick zu. Der Fahrtwind zerrte an ihrem breitrandigen Strohhut und dem roten Band, mit dem sie diesen unter ihrem Kinn befestigt hatte. Sie hielt die Augen geschlossen, und die Hände lagen gefaltet auf ihrem Rock, der inzwischen

Weitere Kostenlose Bücher