Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Norah war noch nicht genug herausgefordert. Sie wollte lieber mit hochgerafftem Rock, der unschicklich ihre weißen, schlanken Beine entblößte, durch das tosende Wasser der Ravenna waten.
„Möchten Sie sich an Ihrem letzten Tag noch die Beine brechen, Fräulein Casey?“, rief er gegen das Rauschen des Wassers an.
Norah warf ihm einen Blick zu und lachte laut auf. „Sie haben ja nur Angst, Ihre Arbeitgeber könnten Ihnen Ärger machen, wenn ich schon wieder mit Schrammen von einem Ausflug zurückkomme.“
Da musste er ihr recht geben, doch das behielt er lieber für sich. Viel zu oft und detailliert hatte sie in den vergangenen Tagen die Hintergründe seines Handelns durchschaut. Er war sehr erleichtert gewesen, dass Norah nach ihrem Sturz am Titisee selbst die volle Verantwortung für ihr gerötetes und zerkratztes Gesicht übernommen hatte.
„Kommen Sie bitte auf den Weg“, forderte er sie höflich auf, selbst auf die Gefahr hin, wieder ihrem gutmütigen Spott ausgesetzt zu sein.
„Ach nein, kommen Sie doch stattdessen ins Wasser! Es ist herrlich“, gab sie zurück, rutschte in diesem Moment allerdings auf einem der glitschigen, moosbewachsenen Flussbettsteine aus. Unter kräftigem Rudern ihrer Arme und eines Beines gelang es ihr gerade noch, das Gleichgewicht zu halten, wobei ein Tropfenregen ihre helle Bluse und den Rock traf. Die einzige Reaktion ihrerseits war ein fröhliches Auflachen.
„Fräulein Casey! Bitte!“, flehte Richard erneut.
„Ich komme ja gleich“, antwortete sie, ging aber eigensinnig weiter und entfernte sich immer mehr von ihm.
Richard sprang über einige aus der Erde ragende Wurzeln und hastete den steilen Anstieg hinauf, damit er von oben wieder einen Blick in den Flusslauf werfen konnte, der hier um einige Meter tiefer verlief als der Wanderweg.
Die Sonne schien durch die weit über das Flussbett ragenden Baumkronen hindurch und warf verzerrte Schatten auf die steil abfallenden Felsen und die von Moos, Farnen, Tannennadeln und Zweigen übersäte Erde. Inmitten des sprudelnden Wassers stapfte, ein wenig unbeholfen wirkend, die junge Frau dahin.
Richard gestand sich ein, dass diese Frau mit ihrer fröhlichen, unbekümmerten Art eine gewisse Faszination auf ihn ausübte.
Norah drehte sich um und suchte das ansteigende Ufer nach ihm ab. Als sie ihn entdeckte, winkte sie kurz mit ihren Schuhen in den Händen und rief dann: „Ich komme heraus, wenn Sie vorher auch im Wasser waren.“
Richard zog eine Grimasse und sah ihr hilflos nach, wie sie um eine durch vorstehende Felsbrocken und wucherndes Dickicht vor seinen Blicken verborgene Biegung des Flusses verschwand. Kurz überdachte er die möglichen Gefahren für sie, aber auch für sich selbst – vor allem, wenn sie weiter im steinigen Flussbett blieb. Er konnte es sich nicht leisten, Norah schon wieder mit einer Verletzung nach Freiburg zurückzubringen. Gerade jetzt hatte er das Gefühl, endlich wichtige Kontakte geknüpft zu haben und im Ansehen der Weltes gestiegen zu sein. Vielleicht durfte er in naher Zukunft mit einer veranwortungsvolleren Position in dem Unternehmen rechnen.
Zügig hastete Richard weiter, bis der Weg wieder auf gleicher Höhe zum Fluss verlief, setzte sich dort auf den Pfad und zog sich die Schuhe und Strümpfe aus. Die schwarzen Strümpfe steckte er in seine Hosentaschen, dann krempelte er sich die Hosenbeine hoch, band seine Schuhe sorgfältig mit den Schnürsenkeln zusammen und befestigte sie am Schulterriemen des Rucksacks.
Vorsichtig kletterte er über die größeren Gesteinsbrocken am Uferrand und tauchte wenig später seine Füße in das kühle Nass. Zuerst fühlte es sich einfach nur kalt an, doch je länger er die Beine im Wasser behielt, das hier am Rand langsamer und ruhiger floss als in der Mitte, desto kälter wurden sie, und innerhalb kürzester Zeit begannen sie unangenehm zu schmerzen.
Richard blies kurz die Wangen auf. Musste er wirklich jeden Schabernack mitmachen, nur auf die Gefahr hin, er könne einen Fehler begehen, den die Weltes ihm vorhalten würden? In diesem Moment kam Norah um eine halb im Wasser liegende, weit in die Höhe ragende Baumwurzel herumbalanciert und lächelte ihn strahlend an.
„Wie viel man doch durch Bestechung erreichen kann – erschreckend!“, rief sie zu ihm hinüber, und wieder einmal trat ihr Akzent sehr deutlich zutage.
Richard, der sich wegen des unangenehm kalten Wassers keine Blöße geben wollte, stand auf und watete unsicheren Schritts
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