Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
in die Mitte des Flusses. Allmählich wurde die Temperatur unerträglich, doch er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, auf dem unebenen, glitschigen Untergrund nicht den Halt zu verlieren.
„Sie müssen sich zwischendurch immer wieder mal auf einen der höheren Felsbrocken stellen. Das hilft gegen die Kälte“, riet Norah ihm und sprang demonstrativ auf einen großen, grünbemoosten Stein. Der war vom Sprühwasser jedoch so nass, dass sie abrutschte und diesmal einen Sturz ins Wasser nur dadurch verhindern konnte, dass sie die Schuhe und Strümpfe losließ und sich an den Felsen klammerte.
Richard versuchte, zu den davontreibenden Schuhen zu gelangen, doch er gab die Bemühungen, ihnen nachzueilen, sehr schnell auf. Ein wenig ärgerlich drehte er sich zu der jungen Irin um.
Diese blickte betreten auf das gurgelnde Nass, das ihre geliehenen Wanderstiefel mit sich davontrug. Nachdem die Schuhe aus ihrem Blickfeld entschwunden waren, schaute sie Richard an – und brach in schallendes Gelächter aus.
Richard konnte sich dem Reiz ihres ansteckenden, herzhaften Lachens nicht entziehen und stimmte mit ein, verstummte jedoch unter Norahs erstauntem Blick sofort wieder. Vollkommen ernst sah er sie an, während sie seinen Blick erwiderte.
„Sie können ja lachen!“, sagte sie daraufhin so leise, dass er ihre Worte über dem Rauschen des Wassers und dem entfernten Brausen des nächsten Wasserfalls kaum verstand.
„Natürlich“, erwiderte er knapp und löste seinen Blick von dem ihren.
„‚Natürlich‘, sagt er“, spottete Norah und stapfte vorsichtig auf ihn zu. Als sie ihn erreicht hatte, bemerkte er, dass ihre Bluse nass an ihrem Oberkörper klebte. Ihr Rock schmiegte sich eng um ihre Beine, was ihre schmale, aber schön geformte Gestalt deutlich hervorhob.
„Sie sind immer so furchtbar ernst, Herr Martin. Meine Großmutter hätte ihre Freude an Ihnen.“ Ohne auf eine Entgegnung zu warten stapfte sie an ihm vorbei in Richtung Uferböschung.
Richard, der das nicht einfach so stehen lassen wollte, fuhr herum und ergriff ihren nassen Arm. Seine eiskalten, schmerzenden Füße waren vergessen. „Ich bin nicht furchtbar ernst , Fräulein Casey.“
„Doch, und so pflichtbewusst und korrekt …“
„Was gibt es daran auszusetzen?“
„Gar nichts. Andere können sich bestimmt hundertprozentig auf Sie verlassen. Aber Sie? Leben Sie überhaupt? Spüren Sie etwas? Fühlen Sie etwas?“
„Das Leben besteht nicht nur aus Spaß, Singen, Tanzen und Fröhlichsein, Fräulein Casey.“
„Das weiß ich, Herr Martin. Glauben Sie mir, das weiß ich nur zu gut. Aber ein Lachen, eine Portion Humor, ein wenig Nachsicht und Großzügigkeit anderen und sich selbst gegenüber machen das Schwere im Leben ein paar Augenblicke lang erträglicher.“
„Und Sie sind der Meinung, dazu bin ich nicht fähig?“
„Ja!“, sagte sie in so überzeugtem Tonfall, dass es Richard kalt den Rücken hinunterlief.
„Ich widerspreche einer Dame nur ungern, Fräulein Casey. Aber Sie haben vollkommen unrecht.“
„Dann nennen Sie mich endlich nicht mehr Fräulein Casey , sondern Norah. Wenn ich mich recht erinnere, bitte ich Sie nun schon das dritte Mal innerhalb von zwei Wochen darum.“
„Sie sind …“
„Sie können es also immer noch nicht. Warum? Weil Sie denken, es wäre nicht angebracht? Oder fürchten Sie eine negative Reaktion vonseiten meiner Verwandten? Was kümmert es Sie? Mich beim Vornamen zu nennen wird Sie kaum den Arbeitsplatz kosten – zumal Onkel Edwin Sie ohnehin über den grünen Klee lobt.“
Richard schloss den Mund wieder, als Norah energisch mit der Hand abwinkte und enthusiastisch auf Englisch fortfuhr: „Er schätzt Ihre Ehrlichkeit, Ihr Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, Ihre Genauigkeit und Pünktlichkeit und, und, und.“ Ihre Stimme schwankte zwischen Mitleid und Spott. „Und jetzt fallen mir gleich die Füße ab!“, lachte sie dann wieder auf Deutsch, sprang aus dem Wasser, setzte sich auf den Weg und streckte ihre krebsroten Füße und Unterschenkel der wärmenden Sonne entgegen.
Richard folgte ihr langsam, atmete allerdings erleichtert auf, als auch er endlich aus dem eisigen Wasser heraus war. Einen Moment zögerte er, bevor er sich einfach neben die junge Frau auf den Pfad setzte und sich krampfhaft bemühte, ihre schlanken Fesseln und schön geformten Unterschenkel zu ignorieren.
„Die Schuhe gehörten Tante Frieda“, murmelte sie leise mit geschlossenen
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