Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
ahnte, dass Norah nicht nur ihren verletzten Knöchel, sondern die ganze Begegnung mit ihrem Landsmann verheimlichen wollte. Immerhin hatte sie sich, was den Zusammenstoß mit diesem Mann betraf, auch ihm gegenüber in Schweigen gehüllt. Die sonst so gesprächige Frau hatte sich verschlossen wie eine Blüte bei Sonnenuntergang. Dabei blieb unklar, ob sie ihn einfach nicht in eine für sie unangenehme Geschichte einweihen wollte oder ob sie diese schlichtweg zu verdrängen versuchte.
„Vergessen Sie bitte nicht das von meinen Gastgebern organisierte große Abschiedsfest heute Abend, Richard! Dabei brauche ich Sie natürlich unbedingt als Übersetzer.“
„ Brauchen werden Sie mich gewiss nicht“, sagte er und blickte sie belustigt an. Sogar noch an ihrem letzten Abend wollte sie ihr kleines Verwirrspiel um ihre Sprachkenntnisse aufrechterhalten.
„Nein, aber wir müssen den Damen und Herren ja nicht auf die Nase binden, wie gut ich sie in den letzten beiden Wochen verstanden habe – es sei denn, sie sprechen diesen seltsamen Dialekt. Der einen oder anderen Lady könnte das im Nachhinein möglicherweise peinlich sein.“
Richard presste die Lippen aufeinander und nickte zustimmend. Norah hatte sich bei keiner der von ihnen besuchten Veranstaltungen oder gesellschaftlichen Treffen etwas anmerken lassen, wenn in ihrer Gegenwart eine abfällige Bemerkung über ihre einfache Kleidung oder ihre Arbeit als Stewardess gefallen war. Er war immer davon ausgegangen, das unternehmungslustige Mädchen sei mit seinen Augen, Ohren und Gedanken schon wieder woanders gewesen, oder sie hätte die spitzen Bemerkungen aufgrund des Dialekts schlichtweg nicht verstanden.
„Wir sind wegen meines Hinkebeins später dran als geplant, nicht wahr? Vielleicht sollten Sie direkt bei sich zu Hause vorbeifahren und sich umziehen“, schlug sie vor.
Richard zog seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf. Norah hatte recht. Ihm würde kaum die Zeit bleiben, das Mädchen bei den Weltes abzusetzen, zurück zu seiner Wohnung zu eilen, sich dort dem Anlass entsprechend zu kleiden und dann noch pünktlich beim Anwesen der Weltes einzutreffen. Also lenkte er den Wagen an der Fabrik vorbei und hielt vor dem Haus, in dem sich seine kleine Dachwohnung befand.
Norah stieg gleichzeitig mit ihm aus und humpelte wie selbstverständlich hinter ihm her zur Haustür. Mit dem Schlüssel in der Hand überlegte Richard, wie er das neugierige Mädchen wohl davon überzeugen konnte, draußen auf ihn zu warten, doch dann zuckte er mit den Schultern. Es machte ihm nichts aus, wenn Norah seine kleine, wenig vornehm eingerichtete Dachgeschosswohnung zu Gesicht bekam. Immerhin handelte es sich bei der Irin ja nicht um eine Angehörige der Gesellschaft, in deren Kreisen er anerkannt werden wollte. Und um die Schicklichkeit ihres Tuns machte Norah sich ohnehin wenig Gedanken.
Richard eilte also, gefolgt von einer diesmal deutlich langsameren Norah, die Stufen hinauf, und als er den Schlüssel in das Schloss seiner Eingangstür steckte, hörte er wie immer, dass die Wohnungstür unter ihm geöffnet wurde.
„Guten Abend, Herr Martin“, begann das übliche abendliche Ritual zwischen ihm und der älteren Frau.
„Guten Abend, Frau Schnee“, erwiderte er.
„Hatten Sie einen guten Tag?“
„Danke, ja. Und Sie?“
„Meine Knie – Sie wissen ja.“
Bevor er seine immer gleiche Erwiderung aussprechen konnte, schaltete sich Norah, die inzwischen die Wohnungstür von Frau Schnee erreicht hatte, in das Gespräch ein. „Guten Abend! Mein Name ist Norah Casey.“
„Ah, der Welte-Besuch aus Irland“, wusste die ältere Dame.
„Hat Herr Martin Ihnen von mir erzählt?“, wollte Norah wissen.
„Herr Martin? Nein, aber auf dem Markt spricht man über Ihren Besuch, Fräulein.“
„Na, so etwas! Ich bin Stadtgespräch!“, rief Norah belustigt.
„Wen sollte das wundern?“ Richard beugte sich über das Treppengeländer, um zu den beiden Frauen hinunterzusehen.
„Was ist denn mit Ihren Knien?“, erkundigte sich Norah mitfühlend bei der älteren Dame.
„Sie sind ständig geschwollen, oh, und diese Schmerzen, Fräulein Casey … mit denen lebe ich nun schon seit fast zehn Jahren.“
„Das tut mir sehr leid, Frau Schnee. Aber ich sehe gerade, Sie haben Ihre Gardinen gewaschen. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie Ihnen aufhänge, solange Richard sich umzieht?“
„Das ist aber …“ Der weitere Gesprächsverlauf entzog sich Richard, denn Frau Schnee
Weitere Kostenlose Bücher