Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Fragen nur so überschütteten.
„Herr Martin, fragen Sie Fräulein Casey doch bitte, wie lange ihre Heimreise dauern wird und ob sie uns im nächsten Frühsommer wieder besuchen kommt.“
Norah sah ihn bewusst nicht an, konnte ein Grinsen jedoch kaum unterdrücken. Sie ahnte, er würde das mit Sicherheit an ihren Grübchen erkennen.
„Norah?“ Richard zögerte, bevor er weitersprach, und sie wusste auch, weshalb. In diesem Augenblick durchschaute er, dass sie ihn mit ihrer Bitte, sie beim Vornamen zu nennen, hereingelegt hatte. Schließlich gab es im Englischen die Unterscheidung zwischen Sie und Du nicht. Sprach er sie jetzt also nur mit dem Vornamen an, kam das einem Duzen gleich.
Aber Richard hatte sich hervorragend unter Kontrolle. Er übersetzte die an sie gestellten Fragen überaus korrekt, wohl in dem Wissen, dass einige der anwesenden Damen der englischen Sprache durchaus mächtig waren.
„Die Damen würden gern wissen, wie lange du für deine Heimreise brauchen wirst und ob du vorhast, den Weltes im nächsten Jahr wieder einen Besuch abzustatten.“
„Sag ihnen bitte, dass das von den Zugverbindungen zwischen hier und Calais abhängt, ebenso wie Wartezeiten beim Umsteigen in den Bahnhöfen, und dann davon, wann das nächste Schiff über den Ärmelkanal setzt.“
„Und die zweite Frage?“
„Ich habe meinen Aufenthalt hier zwar sehr genossen, aber die Reise war sehr kostspielig. Vielleicht kann ich sie in ein paar Jahren einmal wiederholen.“
„Soll ich das wirklich so sagen?“, fragte er leise nach.
„Ich bin, wie ich bin und was ich bin, Richard. Weder andere Menschen noch ich selbst haben ein Recht dazu, mich deshalb kleinzumachen.“ Forschend sah sie ihn an, doch er reagierte nicht auf ihre Anspielung. Mit einer kleinen Verbeugung wandte er sich an die wartenden Frauen und übersetzte penibel das, was sie gesagt hatte.
Nach ein paar weiteren höflichen Fragen wandten sich die Damen anderen Gesprächsthemen zu und schlenderten dabei durch den Garten, während Norah mit Richard allein auf dem von den Fackeln ausgeleuchteten Weg zurückblieb.
„Du hast es überstanden, Richard.“ Sie blieb keck auch im Deutschen bei dem vertrauteren Du.
Er sah sie an, lächelte und erwiderte: „Du auch.“
„Für mich war es ja nicht schwer. Ich hatte zwei herrliche freie Wochen in einer atemberaubend schönen Landschaft bei netten, höflichen Menschen und konnte viel sehen und erleben“, schwärmte sie.
Richard reagierte nicht, und so wandte sie sich ab und ging zu dem mit Gläsern, Krügen und Schalen überladenen Getränkebüfett, um dort nach einer Sektschale mit roséschimmerndem Inhalt zu greifen.
Sie hatte die Zeit hier in Deutschland wirklich sehr genossen, obwohl der Zwischenfall in der Ravennaschlucht – sollte Richard recht haben und der Mann, der sie gestoßen hatte, war tatsächlich Ire – darauf hindeutete, dass sie noch immer nicht außer Gefahr war. Trotzdem freute sie sich auch wieder auf die Heimreise, ihre Freunde in Irland und die bald anstehende Überfahrt als Stewardess in die faszinierende Stadt New York.
Während sie langsam in Richtung des Hauseingangs schlenderte, bemerkte sie außerhalb des Grundstückes die dunkle Silhouette eines Mannes. Wurde sie also doch beobachtet?!
Kapitel 7
Seit Norah Caseys Abreise vor mehr als drei Monaten hatte sich Richards Leben langsam wieder normalisiert, allerdings nicht vollständig.
Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Norahs Vorschlag abzuweisen, sich ein bisschen um Frau Schnee zu kümmern, sodass er seither zweimal in der Woche für die ältere Dame einkaufte. Diese Neuerung in seinem ansonsten ruhig dahinfließenden Leben hatte zur Folge, dass er nun zweimal in der Woche seine Abendmahlzeit bei Frau Schnee einnahm und sie dabei lange, tiefgehende, aber auch fröhliche Gespräche führten. Gelegentlich stellte sie ihm einen Teller mit selbst gebackenem Kuchen vor die Tür, und beim Zurückgeben des Geschirrs ergaben sich weitere kleine Unterhaltungen im Treppenhaus, die weit über das abendliche Ritual hinausgingen, das bis dahin seinen Umgang mit der Frau geprägt hatte.
So hatte Norah der alten Dame einen Gesprächspartner und eine Hilfe beschert und Richard ein wenig Abwechslung und kleine Leckereien.
Außerdem setzte er die von Norah eingeführten frühmorgendlichen Spaziergänge durch die Stadt und ihre Umgebung fort, lief die Strecken allerdings in flottem Tempo. Die Bewegung und die frische Luft am Morgen
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