Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
taten ihm gut.
Hin und wieder wurde er zu den Weltes oder Bokischs eingeladen, vor allem dann, wenn ein Kunde aus dem Ausland oder ein Geschäftspartner von Steinway & Sons zu Besuch in Freiburg war, der nur Englisch sprach.
Ansonsten blieb alles beim Alten. Er arbeitete gewissenhaft und oftmals länger, als von ihm erwartet wurde. Seine Tage folgten – bis auf wenige Ausnahmen – einem immer gleichen Muster, und nur hin und wieder gab es einen kurzen Moment, in dem er sich wünschte, wie im Frühsommer mit Norah einfach nur an einem See zu sitzen oder durch die Wälder zu wandern – ohne Ziel und ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen.
Inzwischen keimte in ihm der Verdacht auf, dass Norah dieses übervolle, stramme Programm nicht zwingend für sich selbst gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ihn damit aus seiner Routine drängen wollen, die ihr so völlig fremd gewesen war. Immerhin hatte sie ihn auch geschickt dazu gebracht, sie zu duzen, obwohl dies seinen Vorstellungen von ihrer eigentlich geschäftlichen Beziehung widerstrebte. Aber diese Überlegungen waren nicht mehr als ein vager Verdacht, und er würde vermutlich nie herausfinden, ob er damit richtiglag.
Norah schloss das Bullauge der D-Deck-Kabine und warf einen letzten prüfenden Blick in den Raum. Die dunklen Mahagonimöbel schimmerten in dem sanften Licht, das durch die runden Glasfenster fiel, in einem warmen Rotbraun. Nicht der kleinste Fingerabdruck war darauf zu sehen. Die Betten waren mit weißer Bettwäsche ordentlich bezogen, und diese lag so glatt, als sei sie nicht aus Stoff, sondern aus Holz geschnitzt. Die geblümten Vorhänge vor dem Stockbett und vor der an der Wand befestigten Couch waren ordentlich zugezogen, Gläser und Tassen standen bereit, und der gemusterte Fußboden zeigte keinerlei Spuren der noch kurz zuvor über den Boden gezogenen Koffer und Taschen. Norah blickte in das in der Anrichte eingelassene weiße Keramikwaschbecken und vergewisserte sich, dass auch sein Zustand keinen Grund zur Klage bieten würde. Zufrieden wandte sie sich schließlich um und verließ die Zweite-Klasse-Kabine, die weitaus edler eingerichtet war als die Erste-Klasse-Kabinen auf anderen Schiffen.
Im Gang vor den Kabinen brachten männliche Stewards und Packer nicht benötigte Gepäckstücke und versehentlich aufs falsche Deck gelangte Überseekoffer und Kisten hinunter in den Laderaum. Schnell warf Norah einen letzten Blick auf die zumindest teilweise ausgeräumten Koffer. Alle Teile waren ordnungsgemäß mit dem für den Laderaum der zweiten Klasse vorgesehenen blaugrünen Gepäckaufkleber versehen.
Suchend sah Norah den Flur entlang und wandte sich dann an einen gerade in den Gang tretenden Kabinensteward. Sie kannte ihn nicht, da die Mannschaften auf den Schiffen für jede Fahrt neu angeheuert wurden.
„Brauchen Sie noch Hilfe?“, erkundigte sie sich.
„Nein“, lautete die patzige Antwort.
„In Ordnung“, erwiderte sie gelassen. Norah wäre dem gestresst wirkenden Kollegen gern zur Hand gegangen, doch offenbar hielt er ihr Angebot für eine Einmischung in seinen Arbeitsbereich, oder er war einer derjenigen, die es noch immer nicht gern sahen, dass Frauen auf einem Schiff arbeiteten. Sie verließ den Korridor durch eines der nur für das Personal gedachten schmalen Treppenhäuser.
Gerade als sie ihre eigene Unterkunft erreichte, spürte sie, wie ein Zittern durch den Rumpf der Olympic lief. Das Vibrieren wurde erst zu einem heftigen, dann gleichmäßigeren Stampfen der Motoren, und die erfahrene Stewardess nickte beiläufig. Es war kurz nach 12:00 Uhr, und sie verließen wie geplant Southampton.
Hinter ihr wurde schwungvoll die Kajütentür geöffnet, und ihre Mitbewohnerin trat ein.
„Hallo, Norah. Auch mal wieder dabei?“, stellte Violet Jessop fest, und ihre graublauen Augen strahlten.
Norah wandte sich um und musterte die nur zwei Jahre ältere Erste-Klasse-Stewardess erfreut. „Violet! Wie schön, dich zu sehen. Ich glaube, wir haben uns auf den letzten Fahrten immer verpasst.“
„Du warst im Ausland, habe ich gehört.“
„Das war schon im Juni.“ Norah winkte ab. Ihr Aufenthalt in Baden schien schon Ewigkeiten zurückzuliegen. „Geht es dir gut?“
„Bestens, aber es ist noch immer kein Mann in Aussicht“, antwortete Violet, und Norah war sich nicht ganz sicher, ob aus den leichthin gesprochenen Worten nicht eine Spur von echter Traurigkeit herauszuhören war.
„Tröste dich, bei mir auch nicht. Obwohl
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