Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
folgte Norah in ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
Norahs spontanes Hilfsangebot wunderte ihn nicht mehr, hatte sie in den vergangenen zwei Wochen doch mit einer beispiellosen Selbstverständlichkeit vermutlich der Hälfte von Freiburgs Einwohnern etwas nach Hause getragen, eine Aufgabe abgenommen oder sonstige Hilfsdienste geleistet. Es war erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit und Freude die junge Frau völlig fremden Menschen begegnete, sich mit ihnen unterhielt und dabei bemerkte, wo sie Hilfe gebrauchen konnten, die sie ihnen prompt anbot.
Richard betrat seine Wohnung und machte sich auf die Suche nach einer guten Hose und einem Hemd, das zwar elegant wirkte, ihn aber nicht auffällig ausstaffiert wirken ließ. Immerhin handelte es sich um eine Gartenparty, da war etwas legerere Garderobe angesagt.
Obwohl er es eigentlich eilig hatte, säuberte er seine Wanderschuhe von Staub und in den Sohlen haftenden Moosstücken und Tannennadeln, bürstete die Hose aus, die er getragen hatte, und warf sein Hemd in den Zuber, in dem er seine Schmutzwäsche sammelte, bevor er sich wusch und umzog.
Gerade als er in seine Leinenschuhe schlüpfte, klopfte es an die Tür, und er ließ Norah herein. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den schmalen Flur und in die aufgeräumte Küche, bevor sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnte. „Was für eine reizende Nachbarin Sie haben, Richard. Sie ist trotz ihrer Schmerzen so tapfer und erledigt alle Arbeiten allein.“
„Ja“, erwiderte er nur, da er im Grunde nichts über die ältere Frau wusste.
„Es ist doch in Ordnung, dass ich ihr angeboten habe, Sie würden ab sofort zweimal in der Woche für sie den Einkauf übernehmen? Sie erwartet Sie morgen zum Abendessen. Bei dieser Gelegenheit können Sie besprechen, an welchen Tagen Sie ohnehin einkaufen, und dabei auch ihre Einkaufsliste mitnehmen.“
Richard, der gerade dabei gewesen war, seine Schuhe zuzubinden, hielt in der Bewegung inne. Die Querfalten auf seiner Stirn vertieften sich, während er seine Hände und die Schnürsenkel betrachtete.
Was fiel diesem Mädchen ein, sich derart in sein Leben einzumischen? Er war schließlich keiner der Menschen, die sie mit ihrer Freundlichkeit und den Hilfsangeboten zu überschütten brauchte. Immerhin war er jung, und es ging ihm bis auf die Tatsache, dass er nicht wusste, ob ihm bei Welte nun tatsächlich eine Beförderung anstand, recht gut.
„Sie ist eine reizende alte Dame und sehr dankbar für diese Regelung. Sie hat so schreckliche Schmerzen in ihren Knien, und wenn sie die schweren Einkaufstaschen nicht mehr tragen müsste, wäre das eine große Erleichterung für sie“, sprach Norah unbekümmert weiter.
Richard beendete sein Tun, nahm seinen Fuß von dem Schemel und richtete sich auf, wobei er Norah scharf ansah. Die grinste frech, drehte sich in dem winzigen Flur um und humpelte die Stufen wieder nach unten.
Der junge Mann verharrte noch einen Augenblick mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten in seinem Flur. Nun blieb es an ihm hängen, Frau Schnee darüber aufzuklären, dass seine Arbeit ihm kaum die Zeit für zusätzliche Botengänge übrig ließ. Andererseits ging er selbst tatsächlich regelmäßig zum Einkaufen auf den Markt. Warum also sollte er nicht die Lebensmittel der älteren Frau mitbringen? Er brachte die Überlegung, ob er sich darauf wirklich einlassen sollte, nicht zu Ende, da die Zeit nun wirklich drängte. Hastig ergriff er seine leichte Jacke und verließ die Wohnung.
Um den Horch herum hatte sich inzwischen eine kleine Schar Jungen versammelt. Die meisten von ihnen trugen unordentlich in den Bund ihrer abgenutzten Kniebundhosen gestopfte Baumwollhemden. Voller ehrfürchtiger Bewunderung betrachteten sie das Fahrzeug, doch als einer von ihnen, ein kleinerer Bursche mit wild abstehenden blonden Haaren, nach einem der messingfarbenen Scheinwerfer griff, wollte Richard ihn lautstark davon abhalten. In diesem Moment entdeckte er Norah auf dem Beifahrersitz, und neben ihr, hinter dem Lenkrad, saß ein glücksstrahlender Junge, der sich von der jungen Frau den Wagen erklären ließ.
„Was ist denn hier los?“, stieß Richard mühsam beherrscht aus.
Seine Handflächen wurden feucht vor unterdrückter Panik. Wie konnte Norah nur so gedankenlos sein und diese wilden Gassenjungen an das wertvolle Automobil heranlassen, das ihnen nur leihweise anvertraut worden war? Für einen Moment schlich sich bei ihm die
Weitere Kostenlose Bücher