Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
…“ Norah unterbrach sich selbst und schüttelte dann den Kopf. Ihr Bruder Adam hatte vor ein paar Monaten einen neuen Freund mit nach Hause gebracht, und der lustige Dylan machte ihr seitdem ein wenig schöne Augen.
„Hallo!“, lachte Violet und zog das Wort bedeutungsvoll in die Länge.
„Ach, nur ein Freund meines Bruders. Ein verrückter Kerl. Immer zu dummen Späßen aufgelegt.“
„Das hört sich aber sehr interessant an“, bemerkte Violet lauernd, und deutlich war ihr irischer Akzent herauszuhören, obwohl sie in Argentinien geboren war. „Fährt dieser charmante Freund deines Bruders zufälligerweise auch bei dieser Tour mit? In der ersten Klasse?“
Norah schaute sie leicht irritiert an und verneinte entschieden. Dylan war als Heizer tätig, aber er befand sich sicher nicht auf der Olympic.
„Dann hast du wohl noch einen weiteren Verehrer.“
„Einen heimlichen Verehrer aus der ersten Klasse? Den sollte ich mir am besten gleich mal ansehen“, witzelte Norah.
„Im Ernst. Da ist so ein Mann mittleren Alters, ein Ire. Er hat nach der Stewardess Norah Casey gefragt. Ein Steward verwies ihn an mich, da er meinte, ich würde die weiblichen Angestellten besser kennen. Jedenfalls bat er mich, dir auszurichten, dass er dich gern heute Abend oben auf dem Deck treffen würde. Steuerbord, vor der Sporthalle.“
„Weißt du seinen Namen?“ Nachdenklich zog Norah die Augenbrauen zusammen. Mit Sicherheit kannte sie keinen Iren, der sich eine Passage in der ersten Klasse leisten konnte!
„Ryan irgendwas. Ich habe ihn nicht richtig verstanden. Es standen zu viele Passagiere in der Nähe, die sich laut unterhielten.“
„Ich kenne ihn bestimmt nicht und sehe keine Veranlassung, mich mit einem wildfremden Mann zu treffen.“ Norah wandte sich entschlossen zu ihrem schmalen Schrank um. Es war ihr tatsächlich noch nie passiert, dass sich ein Passagier nach ihr erkundigte, auch wenn manch ein Handlungsreisender sie inzwischen vielleicht kannte. Vermutlich war das alles ein Missverständnis, das aufgrund des lauten Trubels während der kurzen Unterhaltung zwischen ihm und Violet entstanden war.
„Was soll ich ihm denn sagen, wenn er mich noch einmal nach dir fragt?“
„Sag ihm, ich habe einen anstrengenden Arbeitstag und keine Zeit, mich mit Passagieren zu treffen. Das muss ihm genügen.“
„Wenn er aber eine gute Partie wäre, Norah?“
„Dann würde ich ihn kennen“, erwiderte Norah keck und brachte Violet damit zum Lachen.
„Klar, alle guten Partien stellen sich ja zuerst bei Norah Casey vor.“
„Sicher, noch bevor sie ein Schiff der White Star Line überhaupt betreten dürfen.“
Sie wollte soeben nach einer frischen Schürze greifen, als ein gewaltiger Ruck durch das Schiff lief. Gleichzeitig ertönte ein Dröhnen, das schnell zu einem ohrenbetäubenden, schrecklichen Quietschen und Schaben wurde.
Aus Violets Schrank fielen ein paar Utensilien auf den Boden und rollten unter das Bett.
Norah hatte instinktiv nach dem Bettgestell gegriffen und hielt sich daran fest. Genauso schnell, wie der Radau begonnen hatte, war alles wieder wie zuvor. Erschrocken sahen die beiden jungen Frauen sich an. Was war passiert? Etwas Großes musste das Schiff gerammt haben! Ihre an die normalen Geräusche des Dampfschiffes gewöhnten Ohren registrierten, dass die beiden gewaltigen Kolbendampfmaschinen im unteren Bereich des Schiffes stillstanden. Ob der Liner in Schwierigkeiten steckte?
„Hat E. J. den Dampfer aufs Festland gesetzt oder auf die Isle of Wight?“, fragte Violet scheinbar gelassen, aber die Tatsache, dass jegliche Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war, machte allzu deutlich, wie tief auch ihr der Schreck in die Glieder gefahren war.
„Wir werden es ja sehen“, erwiderte Norah, ließ die Schürze im Schrank und zwängte sich an Violet vorbei zur Tür hinaus.
„Gut“, murmelte ihre Kollegin und fügte hinzu: „Fragen wir nach, was passiert ist, und beruhigen unsere Passagiere. Und uns selbst.“
Die beiden Frauen liefen bis zum B-Deck hinauf, auf dem nach der Jungfernfahrt im Juni noch einige zusätzliche Erste-Klasse-Kabinen eingebaut worden waren. Auf der Steuerbordseite hatten sich bereits einige Passagiere und Besatzungsmitglieder eingefunden. Norah zwängte sich energisch durch die anderen Neugierigen hindurch, um schließlich über das unruhige Gewässer des Spithead sehen zu können. Dabei fiel ihr Blick auf einen Kreuzer der Royal Navy, dessen Bug einer länglichen
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