Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
einladend mit der Hand auf die Eingangstür des Haupthauses.
„Zuerst sollte ich mich besser umkleiden“, wandte Richard ein und bemerkte, wie das unangenehme Gefühl von zuvor zurückkehrte und die Freude über ihre Anwesenheit verdrängte.
Ihre schmale Hand legte sich auf seinen Arm und strich kurz über den groben Baumwollstoff seines Hemdes. „Mit seinen Händen zu arbeiten hat noch niemandem geschadet, vor allem, wenn diese Hände so wundervolle Dinge wie diese Pianos und Orgeln hervorbringen.“ Helena trat einen Schritt näher und flüsterte ihm ins Ohr: „Und Sie duften so herrlich nach Holz.“
Richard war sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Dennoch blieb das beklemmende Gefühl, der Lage nicht ganz gewachsen zu sein.
Plötzlich vernahm er hinter sich eine ihm vertraute Stimme: „Hallo, Richard! Bist du fertig? Können wir los?“
Richard und Helena drehten sich zur Straße um. Hinter dem Tor winkte ihnen eine wie immer fröhliche Norah überschwänglich zu. Auf Richards Stirn entstanden zwei tiefe Falten. Hitzewellen jagten durch seinen Körper. Er hatte seine Verabredung mit Norah völlig vergessen!
„Wer ist das denn?“, murmelte Helena deutlich missgestimmt.
„Eine entfernte Verwandte der Weltes und Bokischs. Würden Sie so freundlich sein und einen Moment warten?“ Richard eilte die Auffahrt hinunter. Norah würde es bestimmt verstehen, dass ihn eine andere kurzfristige Einladung von einem Erkundungsgang durch die Werft abhielt.
„Fertig mit der Arbeit für heute?“, begrüßte ihn Norah heiter und trat vom Tor zurück, damit er es öffnen konnte.
„Ja. Aber leider ist mir etwas dazwischengekommen. Können wir den Ausflug auf morgen verschieben?“
„Ein Ausflug?“ Helena war ihm unbemerkt gefolgt und gesellte sich neben ihn.
Richard war die ganze Situation, in die er sich unüberlegt manövriert hatte, so unangenehm, dass er sich wünschte, im Boden versinken zu können.
Er wusste aus Erfahrung, dass die gut situierten Bürger ihre Angebote selten zweimal aussprachen. Es gab immer einen anderen Mann, der eine Arbeit annahm und erledigte, wenn man zögerte. Vermutlich war dies bei Helena nicht anders.
Deren Blick wanderte von Norahs Gesicht bis zu ihren leicht abgewetzten Schuhen und wieder zurück.
„Hallo! Ich bin Norah Casey“, stellte das Mädchen sich vor und streckte ihr die Hand hin, ließ sie dann aber wieder sinken, als Helena keine Anstalten machte, sie zu ergreifen.
„Miss Casey wollte mir heute die Harland & Wolff -Werft und die Titanic zeigen, die von Mr Andrews, Mr Carlisle und Mr Wilding gebaut wurde.“
„Und von Leuten wie meinem Vater“, fügte Norah freimütig hinzu.
„Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. Die Titanic ist tatsächlich sehenswert. Sollten Sie sie einmal von innen sehen wollen, kann ich das gern für Sie arrangieren.“
Richard bemerkte sehr wohl den deutlich kühlen Unterton in Helenas Stimme und glaubte, dass ein gewisser Vorwurf, wenn nicht sogar ein wenig Trotz aus ihren Augen sprach.
Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich und sein Blick wanderte unentschlossen zwischen beiden Frauen hin und her. Die Höflichkeit gebot es ihm einerseits, Norahs Einladung nachzukommen, immerhin hatte sie sich eigens für ihn auf den Weg hierher begeben. Andererseits wollte er Helena auf keinen Fall das Gefühl vermitteln, Norah sei ihm wichtiger als sie.
„Wunderbar.“ Norah klatschte in ihre Hände und wandte sich zum Gehen. Damit nahm sie ihm die Entscheidung aus der Hand – wieder einmal. Als er zögernd das Tor öffnete, drehte sich das Mädchen nochmals um und rief in Richtung Helena: „Ich bringe Ihnen Richard wohlbehalten wieder, versprochen!“
Fast war Richard versucht, Norah hinterherzurufen, er habe es sich anders überlegt, doch Helena war bereits auf dem Weg zurück zum Haupthaus. Aufgebracht über Norahs kleine Frechheit zog er das Tor so heftig hinter sich zu, dass es laut klirrend ins Schloss fiel.
Kaum, dass er die junge Frau eingeholt hatte, sprangen plötzlich zwei Personen von einer der Grundstücksmauern vor ihm auf die Straße. Richard fuhr zusammen, erkannte in ihnen aber schnell Dylan und Adam.
„Tag, Rick!“, begrüßte ihn Adam und drückte ihm fest die Hand, während Dylan ihm so heftig auf den Rücken klopfte, dass er zwei Schritte nach vorne taumelte.
„Wer war denn die weiße Lady hinter dem Zaun?“, wollte Adam wissen, und Dylan prustete lachend: „Hey, ihr habt ausgesehen wie zwei
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