Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
seltene Tiere im Zoo. Norah draußen und ihr zwei eingesperrt hinterm Zaun.“
Richard grinste schief. Das beklemmende, ihn belastende Gefühl, das er verspürte, seit er Helenas makellose Erscheinung erblickt hatte, fiel von ihm ab. Befreit atmete er auf und entspannte seine Nackenmuskulatur. Er würde sich wohl erst daran gewöhnen müssen, die Aufmerksamkeit einer jungen Dame nicht als anstrengend zu empfinden, sondern sie genießen zu können.
„Das war Helena Andrews“, erklärte er, obwohl er den Eindruck gewann, die beiden wollten das gar nicht wirklich wissen. Vermutlich amüsierten sie sich einfach gern auf seine Kosten.
„Die schöne Helena?“, witzelte Adam und blieb stehen.
„Du kennst sie?“ Richard war sichtlich verdutzt. Adam hingegen musterte ihn, als sei er nicht ganz bei Trost. Dann griff der Matrose in den Stoff seiner zwar makellosen, aber einfachen Jacke und zog daran. „Sieh mich an! Und jetzt stell die Frage noch einmal!“
„Vergiss es!“, gab Richard lachend zurück und wich aus, als er Dylans Pranke auf sich zukommen sah.
„Wie sie dastand und gelauert hat! Und als du rauskamst, hat sie sich schnell den gelben Ast geschnappt und ihr Gesicht reingedrückt.“ Dylan lachte bei der Erinnerung an die Szene, die sich ihnen geboten hatte, schon wieder lauthals los, wobei seine hohe Stimme zusätzlich für Heiterkeit sorgte. Aber vermutlich wusste der lustige Kerl das auch selbst.
„Ja, es wundert mich, dass sie vom Blütenstaub nicht gelb im Gesicht war. Ach übrigens: Du bist ganz braun. Was ist das? Sägemehl?“ Norah strich ihm mit dem Zeigefinger über die Wange und betrachtete die kleinen Partikel auf ihrer Fingerspitze.
Verlegen zog Richard ein Taschentuch hervor und wischte sich damit über das Gesicht. Wie hatte er die Sägemehlschicht vergessen können, die seine Arme und sein Gesicht bedeckte? Was Helena jetzt wohl von ihm dachte? Ob sie ihn lächerlich fand? Das war nicht gerade eine Einschätzung seiner Person, mit der er zurechtkommen würde.
Der Umgang, den sie für gewöhnlich pflegte, bestand vermutlich aus Männern der Oberschicht, die sich nicht einen Augenblick gehen ließen oder auch nur einmal aus dem Rahmen fielen. Bekümmert senkte er den Kopf … und wunderte sich dabei, dass er noch immer Norahs leichte Berührung auf seiner Wange spürte. Gemeinsam schlenderten sie weiter und allmählich entspannte sich Richard wieder. Vielleicht waren die Geschwister und ihr Freund endlich fertig mit dem Spotten.
„Und dieses Kleidchen ! Zu dieser Jahreszeit! Ich konnte ihre Gänsehaut von der Straße aus sehen“, spann jedoch Adam prompt den Faden weiter.
Norah kicherte. Eine Bewegung von Dylan ließ Richard vorsorglich die Muskeln anspannen und tatsächlich klatschte Dylans kräftige Hand ein weiteres Mal schmerzhaft auf seine Schulter. Diesmal hielt er dem Schlag jedoch stand.
„Da hast du dir ja einen feinen Fisch an Land gezogen, Rick! Ich weiß nicht – soll ich mich für dich freuen oder dich bemitleiden? Ich sag dir Bescheid, wenn ich es weiß!“
Adam, Dylan und Norah beschleunigten ihr Tempo und Richard ließ sich nur zu gern ein Stück zurückfallen. Unauffällig wandte er den Kopf; der Platz vor Ormiston House lag nun verlassen da. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße vor sich richtete, bemerkte er eine Bewegung genau vor der Mauer, an der Dylan und Adam auf ihn und Norah gewartet hatten. Täuschte er sich, oder drückte sich da jemand in den Schatten der Steine?
Richard schüttelte den Kopf, als könne er so den eigentümlichen Eindruck loswerden. Aus welchem Grund sollte das jemand tun? Er beeilte sich, den Geschwistern und Dylan nachzukommen, wobei er sich ein letztes Mal umdrehte, nur um festzustellen, dass niemand zu sehen war. Vermutlich hatten die Schatten der schnell ziehenden Wolken ihm einen Streich gespielt.
„Die schwersten Arbeiten hier hat dieser Deutsche gemacht.“ Adam deutete auf einen gewaltigen, aus unzähligen Eisenverstrebungen bestehenden Schwimmkran. Auf dem Firmenschild stand deutlich zu lesen: Benrather Maschinenfabrik AG .
Adam und Dylan waren dazu übergegangen, Richard auf dem Erkundungsgang durch die Werft und entlang der Docks unzählige Details zu erläutern.
Schließlich erreichten sie das Tiefwasserdock, in dem bewegungslos und majestätisch die Titanic lag. Graublaue Wellen leckten an dem schwarzen Rumpf mit der roten Wasserlinie und wirkten geradezu lächerlich klein im Vergleich zu dem
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