Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
gewaltigen Ausmaß des Dampfschiffs.
„Was für ein Riese!“, entfuhr es Richard beinahe ehrfürchtig.
Die beiden Seeleute grinsten sich an.
„Aber sie hat ja vier Kamine. Auf den Bauplänen waren nur drei eingezeichnet“, fiel Richard sofort auf.
„Du hast Baupläne der Titanic gesehen?“
„Und die der Olympic , ja. Mr Andrews und Lord Pirrie haben sie uns gezeigt.“
Wieder wechselten die beiden Seeleute einen Blick, den Richard jedoch nicht deuten konnte. Allerdings hielten sie mit ihren Überlegungen nicht lange hinter dem Berg: „Hey, du kennst Andrews und den Lord?“, fragte Dylan, und seine Stimme klang noch eine Nuance höher als gewöhnlich.
„Flüchtig“, erwiderte Richard knapp. Er hielt es nicht für angebracht, in der Gegenwart der Männer über den Abend bei den Pirries zu sprechen. Die Welt der erfolgreichen Geschäftsmänner unterschied sich einfach zu eklatant von Adams und Dylans Alltag.
„Der vierte Kamin wurde dazugebaut, weil alle bekannten Schiffe zurzeit vier Kamine haben. Somit entspricht auch die Olympic -Klasse dem momentanen Erscheinungsbild der großen Liner, wohl weil man befürchtete, bei nur drei Schloten könne die Schnelligkeit oder Sicherheit der Schiffe angezweifelt werden“, erklärte Adam. „Aus dem hinteren Schornstein kommt nur heiße Luft. In ihn münden die Entlüftungsschächte aus den Kessel- und K üchenräumen.“
Richard sah noch einmal an dem schwarzen, scheinbar endlosen Rumpf entlang und zu den in der Abendsonne goldglänzenden, elliptischen Schornsteinen hinauf, die die umliegenden Schiffe und Gebäude bei Weitem überragten. Für ihn würde es vorerst nur ein Traum bleiben, einmal mit einem so luxuriösen Schiff eine Reise nach New York zu unternehmen. Aber eines Tages würde dieser Traum auch für ihn Wirklichkeit werden. Er würde nicht mehr nur der Hersteller von luxuriösen Ausstattungsartikeln sein und dabei zusehen, wie andere sie genossen, sondern selbst die Welt bereisen, vielleicht mit einer schönen Frau an seiner Seite …
Wo steckte eigentlich Norah? Langsam drehte er sich um. Während er und die beiden Männer an die Kaimauer getreten waren, war Norah bei einem der unzähligen Holzschuppen, Lagerhallen und Hafengebäude zurückgeblieben, um sich mit einem älteren Herrn zu unterhalten. Jetzt konnte Richard sie allerdings nicht mehr sehen.
„Wo ist Norah?“, fragte er laut, da ihr Verschwinden ihn beunruhigte. Erstaunt stellte er fest, dass er noch immer ein gewisses Verantwortungsgefühl für sie empfand, wie damals, als sie ihm von den Weltes anvertraut worden war. Die Sonne stand inzwischen sehr tief und warf lange Schatten zwischen den Gebäuden, Kisten, Lastwagen und Arbeitsgeräten. Eine frische Brise vom Meer trug den typischen salzigen Geruch mit sich und ließ ein paar Planen und Tücher aufwehen.
Dylan und Adam gesellten sich neben ihn. „Sie wird mal wieder irgendetwas organisieren“, meinte ihr Bruder leichthin.
„Organisieren?“, fragte Richard nach und suchte erneut die Umgebung mit den Augen ab.
„Ja, wenn sie nicht auf einem Schiff ist, ist sie ständig unterwegs“, lieferte Adam eine Erklärung, die jedoch nicht unbedingt logisch klang. Richard grinste. Das kam ihm nur allzu vertraut vor.
„Mal sucht sie ein Ersatzfenster, weil im Haus eines ihrer Freunde eines zu Bruch gegangen ist, dann sind es wieder Nahrungsmittel oder Medikamente oder Holz, um eine Tür auszubessern oder um ein neues Bett zu zimmern und so weiter. Meistens tauscht sie diese Dinge dann gegen etwas anderes ein. Sie weiß grundsätzlich immer, was ihre Freunde und Bekannten gerade dringend brauchen oder entbehren können.“
Die drei jungen Männer gingen weiter und blickten suchend in die hinter den Hafengebäuden abzweigenden Gassen, ob sie das Mädchen entdecken konnten. Richards innere Unruhe wuchs, und er verstand nicht, wie Dylan und Adam angesichts von Norahs Verschwinden inmitten dieses unübersichtlichen Hafengeländes so gelassen bleiben konnten.
Schließlich erreichten sie das Ende des Kais, und Richard drehte sich langsam um, um einen Blick zurückzuwerfen. Norah war noch immer nirgends zu sehen.
„Wen kennt sie hier bei den Docks?“, wollte Dylan von seinem Freund wissen.
„Ein paar Straßen weiter wohnen die O’Deas. Vielleicht ist sie zu denen gegangen“, erwiderte Adam.
„Ohne uns zu informieren?“, brummte Richard.
„Das ist wirklich etwas seltsam“, stimmte Adam ihm zu, und Richard meinte nun auch in
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