Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
seiner Stimme eine gewisse Besorgnis zu hören. Nur zu gut erinnerte er sich daran, welche Angst er damals in der Ravennaschlucht um Norah ausgestanden hatte. Dass sie jetzt nirgends zu sehen war, gefiel ihm gar nicht.
„Hat Norah euch nach ihrem Besuch im Schwarzwald eigentlich davon erzählt, dass sie beinahe in eine tiefe Schlucht gestürzt wäre?“, fragte Richard, während er den beiden Seeleuten in eine enge, nach Unrat, Fisch und feuchtem Schlamm riechende Gasse folgte.
„Sie hat etwas von einem See gesagt. Du hättest sie mit einem Automobil dorthin gefahren.“
„Die Schlucht hat sie nicht erwähnt?“
„Nein“, antwortete Adam und bog in eine weitere Gasse ein. „Was hätte sie denn erzählen sollen?“
Richard achtete darauf, möglichst in der Mitte des mit holprigem Kopfsteinpflaster befestigten Weges zu bleiben. „Wir wollten uns die Ravennaschlucht ansehen. Norah ist wie immer vorausgelaufen und plötzlich hörte ich ihren Schrei. Zum Glück war sie nicht über die Klippe hinuntergestürzt, sondern auf einem Felsvorsprung gelandet, sodass ich sie heraufziehen konnte. Ich habe den Verdacht, dass sie von einem irischen Landsmann in die Schlucht gestoßen wurde – jedenfalls kam mir unmittelbar nach Norahs Schrei ein Mann entgegen und murmelte etwas Irisches. Bestätigt hat sie mir meinen Verdacht aber nie.“
Richard fuhr zurück, als ein grauer, struppiger Hund vor ihm über die Gasse jagte und in der Lücke eines Bretterzauns verschwand. Niemals hätte er gedacht, dass es ein noch heruntergekommeneres Viertel geben könnte als das, in dem Norahs Familie lebte. Doch diese Häuser hier, der Schmutz und die deutliche Armut in dieser Gegend übertrafen bei Weitem alles, was er sich jemals hätte vorstellen können. Er sehnte sich nach den breiten, großen und sauberen Straßen rund um den Belmont Park, an denen mehrstöckige, solide gebaute Häuser mit schönen Fassaden standen.
„Ein Mann hat sie gestoßen?“, fragte Dylan und folgte Adam in die nächste Seitengasse, die noch schmaler war als die vorherige.
Unter Richards Füßen knirschten Sand, Steine und Holzreste und in der Luft hing plötzlich eine eigentümliche, fast greifbare Feuchtigkeit.
„Ja. Ein gälisch-irisch sprechender Mann“, erwiderte Richard und fragte sich, warum er plötzlich flüsterte. Aber es kam ihm so vor, als neigten sich die windschiefen Häuser noch weiter in die Mitte der Gasse, um ja kein Wort von dem zu verpassen, was hier gesprochen wurde. Ein eisiges Frösteln jagte ihm über den Rücken und die Arme.
„Im Schwarzwald?“, fragte Adam misstrauisch und blieb stehen. Unruhig schweiften seine Augen die Gasse entlang. „Norah macht sich mit ihren Hilfseinsätzen nicht nur Freunde, Rick“, erklärte er ihm. „Letzten Winter hat sie eine Prostituierte aus einem Belfaster Bordell herausgeholt. Das Mädchen war noch sehr jung, keine sechzehn, soweit ich weiß. Das hat Norah einigen Ärger eingebracht; sie bekam wüste Drohungen, zumeist über Dritte, und einmal gab es einen direkten Angriff auf sie, den Dylan aber vereiteln konnte, weil er gerade in der Nähe war. Meine Eltern schickten sie daraufhin nach Deutschland, damit sie erst einmal aus der Schusslinie war. Direkt vor und auch nach ihrem Aufenthalt im Schwarzwald war sie als Stewardess unterwegs. Sie ist also mindestens sieben Wochen nicht in Belfast gewesen. Seither ist nichts mehr passiert, und wir hatten angenommen, die Lage habe sich beruhigt.“
„Warum tut sie das? Weshalb setzt sie sich so sehr für andere ein, obwohl sie dabei einiges riskiert?“, fragte Richard und dachte dabei an all ihre Bemühungen im ihr eigentlich fremden Freiburg. Auf ihre selbstlose Art hatte Norah Frau Schnee und indirekt auch ihm geholfen; sie hatte mit den Damen im Büro, den Arbeitern, der Reinigungsfrau und den Bediensteten der Weltes und Bokischs gesprochen, als seien sie ihre besten Freunde.
Richard bekam keine Antwort, denn Adam trat an eine niedrige Eingangstür und schlug mit der Faust kräftig gegen das von der Feuchtigkeit schwarze Holz.
Es dauerte lange, bis eine in Grau gekleidete, sehr zerzaust aussehende Frau die Tür öffnete. „Bist du das, Adam?“, fragte sie und blinzelte zu dem großen Mann hinauf.
„Ja. Ist Norah bei euch?“
„Norah? Sie war heute noch nicht hier.“
„Falls sie kommt, sag ihr, sie soll hier warten, bis wir wiederkommen.“
„Mache ich“, antwortete die Frau, ehe sie die Tür schnell wieder schloss. Richard
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