Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
dem Schuppen ein, und die drei wurden kurzerhand auf die Suche nach dem im Hafenviertel lebenden und arbeitenden Arzt geschickt. Nur wenig später kamen sie mit der Nachricht zurück, dass sie ihn gefunden hatten: Er lag vollkommen betrunken und besinnungslos unter seinem Küchentisch.
„Dann bringen wir sie ins Krankenhaus“, schlug Adam vor.
„Du weißt doch, wie das läuft. Sie stecken sie in ein Bett, und da liegt sie dann stundenlang, bis einer der wenigen Ärzte, die sich auch ohne Bezahlung um die Leute kümmern, Zeit für sie findet.“ Catherine schüttelte den Kopf. „Sie sieht nicht so aus, als ob sie die Zeit dafür hätte!“
Der breitschultrige Mann zog an seiner Zigarette und beobachtete anschließend durch den Rauch, der langsam aus seinem halb geöffneten Mund hervorquoll, wie die seltsame Prozession das verletzte Mädchen zum Grundstück der Pirries brachte.
Mit geballten Fäusten duckte er sich ein wenig tiefer in den Schatten einer Grundstücksmauer. Das hier gefiel ihm überhaupt nicht. Das Risiko, dass Norah Casey dieses Mal nicht allein zum Queen’s Square kam, da ihr Bruder und dessen Freund ausnahmsweise einmal gleichzeitig mit ihr in Belfast anstatt auf einem Ozeandampfer waren, hatte er einkalkuliert. Nicht jedoch einen bei Lord Pirrie wohnenden Bekannten des verflixten Luders. Ein Besucher von Ormiston House besaß mit großer Wahrscheinlichkeit Einfluss und Geld und barg damit die Gefahr, dass die Angelegenheit aus dem Ruder lief. Dieser Fremde würde Norah vermutlich nicht einfach schutzlos nach Susans Schwester Leah suchen lassen. Er würde bestimmt die Polizei hinzuziehen.
Ryan Cowen spuckte missmutig auf den Boden und zündete sich eine weitere Zigarette an. Jetzt hieß es erst einmal Geduld haben. Schließlich war Norah sehr impulsiv. Vielleicht konnte sie nicht abwarten, bis ihr reicher Verehrer die Polizei verständigt hatte.
Eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Straßenseite veranlasste ihn, sich noch fester an die graue Mauer zu drücken. Er kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt an der hohen, halbrund getrimmten Hecke an der Wandsworth Road entlang.
Im schwachen Mondlicht erkannte er zwei Gestalten, die er schon einmal in Norahs Nähe entdeckt hatte und die offensichtlich darum bemüht waren, von ihr nicht gesehen zu werden. Hämisch verzog er sein Gesicht. Wie konnte man sich dann so ungeschickt in den Mondschein stellen? Dringender jedoch war die Frage, was die beiden Gestalten von Norah wollten …
Kapitel 14
Norah sah zu, wie Adam und Richard Susan vorsichtig auf das weiche, mit einer kostbaren Damastdecke überzogene Bett legten und danach zurücktraten. Noch immer rührte sich ihre junge Freundin nicht, nicht einmal ein Stöhnen drang über ihre aufgeplatzten Lippen, die jegliche Farbe verloren hatten. Fast hätte man annehmen können, Susan sei tot. Nur das gleichmäßige, wenn auch schwache Heben und Senken ihres Brustkorbes zeigte, dass noch Leben in ihr steckte.
Norahs Blick ging zu den beiden Männern hinüber, die bis an die Wand zurückgewichen waren. Nebeneinander standen sie da und starrten auf das Häuflein Elend auf dem Bett. Obwohl sie in ihrer Art kaum unterschiedlicher sein konnten, sahen sie sich im Augenblick ungewöhnlich ähnlich. Beide waren sie zerzaust, verschwitzt und mit dem Schmutz und Blut der Verletzten beschmiert, die sie abwechselnd getragen hatten. Sie hatten beide ihre Hände in ihren Hosentaschen vergraben, während ihre Augen auf dem Mädchen ruhten und das Entsetzen über Susans Zustand deutlich von ihren Gesichtern abzulesen war. Norah musterte Richard unauffällig. Er fühlte sichtbar mit Susan mit. Und er hatte darauf bestanden, dass sie die Verletzte zu den Pirries brachten, ohne groß über sein Handeln nachzudenken, da er die Hoffnung hegte, hier würde ein guter Arzt bereitwillig nach dem Mädchen sehen.
Norahs Augen ruhten lange und voller Zuneigung auf dem Deutschen. In den vergangenen Minuten hatte er deutlich gezeigt, dass sehr viel Mitgefühl für eine hilflose Fremde, ein ausgeprägter Beschützerinstinkt und auch großer Mut in ihm steckten. Bei diesen Gedanken fühlte sie eine angenehme Wärme in ihrem Inneren aufsteigen. Den Richard, den sie heute kennengelernt hatte, mochte sie sehr. Doch im Moment galt ihre ganze Sorge der verletzten Susan.
„Und jetzt?“, fragte Adam leise.
„Ich frage im Haus nach, welcher Arzt in der Nähe wohnt“, entschied Richard und wandte sich ab. Als er sich
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