Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Fackeln fast so intensiv wie die Sterne am Nachthimmel. Vollkommen fasziniert betrachtete er sie und konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Ob er jemals in ein glücklicheres und dadurch auch schöneres Gesicht geblickt hatte als in das von Norah?
„Tanzt du mit mir?“, stieß sie atemlos hervor.
Der Greis beugte sich zu ihnen herüber und sagte: „Lass mal, Sternchen. Der Fremde ist schwer verletzt.“
Sein Tonfall hätte kaum spöttischer sein können und in Richard regte sich so etwas wie Trotz. Norah trat ganz dicht vor ihn und betrachtete prüfend seine Stirn. Dann winkte sie mit beiden Händen ab, als könne auch sie seine Beule nicht als Hinderungsgrund für einen Tanz akzeptieren.
Richard nahm an, die lebenslustige junge Frau würde sich jetzt wieder in das Getümmel stürzen, doch stattdessen kam sie ihm noch näher, vermutlich, um nicht zu laut schreien zu müssen.
„Edward ist nicht da“, begann sie, vom Tanz noch immer keuchend.
Angestrengt dachte Richard darüber nach, ob sie schon einmal einen Edward erwähnt hatte, konnte sich aber nicht erinnern, diesen Namen zuvor gehört zu haben. „Aber sein Akkordeon ist in seiner Wohnung. Du sagtest mal, du könnest auch dieses Instrument spielen, stimmt’s?“
„Nein“, wehrte er knapp ab. Unter keinen Umständen würde er sich zu dem fiedelnden Daniel auf diese wackelige Kiste stellen und in dessen derb gespielte Musik einstimmen!
„Ach, komm schon! Du hast doch selbst gesagt, dass du auch schon Akkordeons gebaut hast und sie spielen kannst. Daniel kommt bei diesen vielen Menschen heute Abend mit seiner Geige kaum noch durch, und die in den weiter entfernten Gassen wollen doch auch tanzen. Mach ihnen und mir die Freude, bitte!“ Sie ergriff seine Hand, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Wenig später fand er sich ebenfalls auf einer Schiffskiste wieder, gut 30 Meter von Daniel entfernt, und schnallte sich ein uraltes Akkordeon um. Jemand rief etwas über die Menge hinweg und lauter Jubel und Beifall brandete auf.
Daniel beendete sein aktuelles Stück und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß vom Gesicht. „Yeah-ho, los geht’s, Freund!“, rief er zu ihm herüber, holte mit dem Bogen weit aus und begann ein neues Lied. Richard hörte sich einen Moment lang in die Melodie hinein, ehe er – zunächst noch zaghaft – mit einstimmte.
Die Minuten verstrichen und wurden zu Stunden. Richard spielte ohne Pause, obwohl er und Daniel mit großer Wahrscheinlichkeit nicht immer übereinstimmten. Doch das konnten höchstens die Paare bemerken, die auf dem Platz zwischen den beiden Instrumenten tanzten. Die Tänzer in den von der Kreuzung abzweigenden Gassen würden wohl nur entweder ihn oder Daniel hören.
Inzwischen rann auch Richard der Schweiß über den gesamten Körper. Seine Haare standen nicht minder zerzaust zu Berge wie Daniels, und auch sein schiefes Grinsen war dem des Geigers sehr ähnlich. Obwohl er eine zunehmende Erschöpfung und vor allem brennenden Durst verspürte, spielte er immer weiter. Er fühlte sich dabei wild und frei, wie ein über die Steppe galoppierendes Pferd oder wie damals, als er als kleiner Junge hinter bunten Schmetterlingen her über die Felder gelaufen war.
Trotz der Dunkelheit in den überfüllten Gassen schien die warme Sonne von damals auf ihn zu scheinen – oder in sein Herz hinein?
Immer wieder sah er Chloe oder Norah, manchmal auch Adam unter den Tanzenden. Dylan hatte ein blondes Mädchen bei sich, das in seinen Armen fast vollständig verschwand, so klein und zierlich war sie.
Mit einem energischen Bogenstrich beendete Daniel das Musikstück, das sie inzwischen zum vierten Mal zum Besten gaben. Richard sah zu dem Geiger hinüber, der sich breit grinsend zu ihm umdrehte und sich daraufhin tief in seine Richtung verbeugte. Der Deutsche tat es ihm gleich. Protestierende Stimmen erhoben sich, wurden jedoch schnell von begeisterten Jubelrufen und heftigem Applaus übertönt.
Richard hängte sich das Akkordeon über seine linke Schulter und wollte von seiner Kiste springen, kam allerdings nicht mehr dazu. Zwei fleischige Hände packten ihn und rissen ihn förmlich hinunter, und schon fand er sich in Chloes kräftigen Armen wieder.
„Griesgrämig, so, so!“, lachte die Frau laut und schallend. Sie stellte ihm Danny Fitzpatrick vor, den Journalisten, den Norah erstaunlicherweise nicht gekannt hatte. Der wurde jedoch sofort von weiteren Männern, Frauen und
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