Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
ließ sie für einen Moment erzittern. Eilig rutschte sie vom Bettrand und stand auf.
„Guten Abend, Miss Andrews“, begrüßte sie die Dame höflich.
Helena erwiderte den Gruß lediglich mit einem knappen Nicken. Daraufhin fiel ihr Blick auf die Verletzte und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Halt suchend tastete sie nach Richard, der sie fürsorglich am Ellenbogen ergriff und seinen Arm um ihren Oberkörper legte.
Norahs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Weshalb nur ärgerte sie Richards fürsorgliche Geste so? Sie wusste doch, dass er sich zu Helena hingezogen fühlte. Und die junge Dame schien ihm gegenüber keinesfalls abgeneigt zu sein. Allerdings half ihr dieses Wissen nicht über den heimlichen Schmerz hinweg, der wie eine kleine Flamme in ihrer Brust zu brennen begann.
„Ich hatte Sie gebeten, nach einem Arzt zu schicken, ohne dass Sie die Verletzte zuvor in Augenschein nehmen, Miss Andrews, weil ich Ihnen diesen Anblick gern erspart hätte“, murmelte Richard, schaute dabei aber Norah an, und seine Augen baten sie um Verzeihung. Er hatte offenbar weder Helenas Anwesenheit noch den Umstand eingeplant, dass weitere wertvolle Minuten vergingen, bevor ein Arzt benachrichtigt wurde.
Entschieden schob er die junge Frau in Richtung Zimmertür.
„Wer ist sie denn?“, erkundigte sich Helena mit einem weiteren neugierigen Blick zurück.
„Ihr Name ist Susan“, antwortete Richard zögernd und offenkundig ungeübt darin, heikle Situationen zu überspielen. Aber wie sollte er auch erklären, dass er lediglich den Vornamen der Verletzten wusste, die er in sein Bett gelegt hatte?
Norah unterdrückte ein Aufseufzen. Vielleicht war es ganz gut, wenn Richard keine näheren Details von Susan kannte. Sollte Helena erfahren, dass die Frau aus einem Bordell kam, würde sie sie vermutlich alle – Richard eingeschlossen – aus dem Haus werfen.
Richard wirkte steif und angespannt – wie immer, wenn er sich in Gesellschaft einer für seine Begriffe hochstehenden Persönlichkeit befand. Der fröhliche, begeistert spielende Musikant von vorhin, ebenso wie der zügig agierende, hilfsbereite Retter in der Not war verschwunden; der wahre Richard lag wieder unter einer Schicht aus Eis vergraben.
„Ich lasse einen Londoner Arzt kommen, der sich in Belfast niedergelassen hat. Er wird sich Ihre Verletzung an der Stirn ansehen. Und wenn er schon mal da ist, kann er auch nach dem armen Kind da schauen.“
Helena verließ in Richards Begleitung den Raum, und ihre Stimmen entfernten sich, was Norah erleichtert aufatmen ließ.
Es dauerte lange, bis die Eingangstür erneut geöffnet wurde. Inzwischen hatte Norah Susan von den schlimmsten Blut- und Schmutzspuren befreit und mithilfe von Adam vorsichtig die verschmutzte Decke unter ihr hervorgeholt.
„Mr Martin, lassen Sie doch bitte zuerst nach Ihrer Stirn sehen. Dr. Barkley ist vor allem Ihretwegen gekommen. Dieses Mädchen kann dann immer noch behandelt werden.“
„Vielen Dank für Ihre Sorge um mein Wohlbefinden, Miss Andrews, doch das Mädchen ist schwer verletzt und braucht dringend ärztliche Hilfe“, erwiderte Richard freundlich, aber bestimmt.
Er betrat zuerst das Gästezimmer und hielt die Tür auf. Helena entschied sich allerdings dafür, sich nicht noch einmal dem unschönen Anblick der Verletzten auszusetzen. Sie trat beiseite und ließ einen älteren Herrn mit einer grauen Weste ein, die schief zugeknöpft war. Vermutlich war der Arzt durch Helenas Anruf aus dem Bett geholt worden. Er begrüßte die Anwesenden mit einem ernsten Blick und einem Nicken und wandte sich unverzüglich der Verletzten zu. „Verlassen Sie bitte alle den Raum“, befahl er, legte seinen Hut auf eine Kommode und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante.
Norah warf einen letzten Blick auf ihre Freundin, ehe sie an Richard vorbei in den Flur ging. Die dort noch immer wartende Helena wich zwei Schritte zurück, als auch Adam und Richard in den engen Vorraum traten.
„Ich denke, Sie können Ihre Gäste nun verabschieden, Mr Martin. Dr. Barkley wird sich um das Mädchen kümmern“, schlug sie kühl vor.
Norah erkannte an ihrem Tonfall deutlich, dass die Dame mit Richard allein gelassen werden wollte. Richard selbst war diese unterschwellige Art, sich auszudrücken, sicher fremd. Ob er in der Lage war, sie zu erlernen? Würde er denn in dieser Welt der Aristokratie zurechtkommen oder vielmehr darin zermahlen werden? Immerhin hatte Norah bereits im Vorjahr einen völlig
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