Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
wieder ins Schloss schnappen ließ, ertönte ein lautes, metallisches Klicken, dabei fiel ihr Blick auf zwei Personen in der dunklen Zufahrt, kurz vor der breiten Freitreppe. Neugierig blieb Norah stehen, während ihre Begleiter bereits dem Gästehaus zustrebten. Die eine Person war unverkennbar Richard, doch konnte es sich bei der kleinen, zierlichen Gestalt in dem zu großen, im Wind flatternden Cape tatsächlich um Helena handeln?
Ein Angestellter im Haus musste inzwischen die Ankunft der Gäste bemerkt haben, denn die beiden Lampen oberhalb der Treppe flackerten auf und beleuchteten die Stufen und den kleinen runden Vorplatz.
Bei der Person mit dem im Gesicht klebenden Haar und dem bis zu den Knien nassen Rocksaum handelte es sich tatsächlich um Helena. Sie schien ihrem mitgenommenen Zustand keine Bedeutung beizumessen, obwohl Norah annahm, dass dieses sicher mehrere Hundert Pfund Sterling teure Kleid nun für immer ruiniert sein würde. Und sie musste zugeben: Helena war auch noch in völlig aufgelöstem Zustand eine wunderschöne Frau. Gerade legte sie den Kopf ein wenig in den Nacken und lachte zu dem viel größeren Richard hinauf, der heute in ihrer Gegenwart längst nicht mehr so korrekt und steif wirkte wie sonst.
Als Helena näher zu Richard trat und vertraulich eine Hand auf seinen Arm legte, wandte Norah sich ab und lief eilig ihren Freunden nach, die das Gästehaus inzwischen erreicht hatten.
Vielleicht hatte Richard in Helena ja das gefunden, was er schon so lange suchte. Eine Vertraute, die ihn liebte und ihn gleichzeitig in die von ihm erträumte gesellschaftliche Position bringen würde. Und dabei schien sie nicht mal eine von diesen auf ihre engstirnigen Regeln beharrenden, verwöhnten jungen Damen zu sein, die Norah häufig auf den Luxusdampfern begegneten. Helena wusste durchaus, dass Richard nur ein einfacher Instrumentenbauer war. Sie jetzt mit ihm zusammen im Regen lachen zu sehen, ließ Norah erkennen, dass sie Helena falsch eingeschätzt hatte. Ich sollte mich für Richard freuen , überlegte Norah, aber es mochte ihr nicht gelingen. Vielmehr breitete sich erneut – und wesentlich stärker noch als zuvor – dieser brennende Schmerz in ihrem Inneren aus.
Norah riss die Tür des Gästehauses auf. Sie musste Richard aus ihren Gedanken und vor allem aus ihrem Herzen verjagen. Er hatte sich für Helena entschieden, und das musste sie akzeptieren, sosehr das schmerzhafte Feuer in ihr auch loderte.
Norah kniete auf dem Boden direkt neben Susans Bett. Sie nahm die kalte Hand ihrer Freundin und führte sie an ihr Gesicht, als könne sie ihre eigene Körperwärme auf diese Weise an sie weitergeben. Tränen rannen ihr über die Wangen.
War sie schuld an dem, was mit Susan geschehen war? Wollte dieser Mann sich immer noch an ihr rächen, weil sie ihm damals Amy entführt hatte? Er hatte ihr gedroht …
Norah schloss die Augen. Sie hatte doch nur Amy und deren Großmutter helfen wollen. Schließlich hatten sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder und sie selbst eine gute Arbeit, die es ihnen ermöglichte, in einem der besseren Häuser Belfasts zu wohnen. Sie konnten sich anständige Mahlzeiten leisten, trugen angemessene Kleidung, und Norah sah in diesem Privileg die Aufgabe, den Menschen, mit denen es das Leben nicht so gut meinte, ihre Hilfe anzubieten.
Im Allgemeinen erhielt sie für ihr Engagement ein dankbares Lächeln, einen festen Händedruck und die Freundschaft von Menschen, die auch mal für sie einstanden. Viele von ihnen hatten Chloes Kosenamen für sie, „Sternchen“, ebenfalls übernommen und nannten sie so. Doch jetzt … Was hatte sie da nur angerichtet, wenn auch unbeabsichtigt?
Norah hob den Kopf und sah zu Dylan, Adam, Danny und den Frauen hinüber. Catherine spielte nervös mit den nassen Falten ihres dunkelgrünen Rocks, während Dylan und ihr Bruder sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Chloe saß einfach nur mit Tränen in den Augen da.
Norah schüttelte den Kopf. Es musste etwas geschehen. Wenn sie diese Tragödie heraufbeschworen hatte, würde sie auch dafür sorgen, dass sie ein Ende fand. Sie konnte unmöglich ihre Freunde und vor allem Leah länger für ihr Verhalten büßen lassen.
Die Zimmertür ging auf, und jemand betrat den Raum. Norah sah sich nicht um, da sie annahm, es handle sich um das Dienstmädchen Sarah, das Helena zur Pflege der Verletzten abgestellt hatte.
Als Norah eine Hand auf ihrer Schulter spürte, fuhr sie herum. Richard stand hinter
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