Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
dass sie direkt vor ihm stand und mit zurückgelegtem Kopf zu ihm aufsehen musste. Die Sonne beschien ihr ebenmäßiges Gesicht mit dem gepflegten, rosigen Teint und ihre blauen Augen strahlten intensiver als der Himmel über ihnen. Um nicht gegen die Sonnenstrahlen anblinzeln zu müssen, kam sie ihm noch näher, so nahe, dass Richard den schweren Brokatstoff ihres Kleides fühlte, der gegen seine Hosenbeine strich.
Er blickte auf sie hinunter und fragte sich, weshalb dieses bezaubernde, wunderschöne und sehr weibliche Wesen aus gutem Hause ausgerechnet ihm so viel Aufmerksamkeit schenkte und nicht schon längst mit einem Adeligen verlobt war.
„Ich werde sehen, was ich tun kann, Mr Martin“, erwiderte sie leise. Mit einer Hand streichelte sie ihm leicht über die Wange. Dann trat sie zurück, wandte sich um und stolzierte durch das noch feuchte Gras in Richtung Haupthaus davon.
Richard blieb verwirrt zurück. Er wusste inzwischen, wie sehr er Norah liebte, doch diese Frau hatte eine einnehmende Art an sich, die ihn nachträglich sehr erschreckte.
Als sein Blick auf das Gästehaus fiel, entdeckte er vor diesem Norah. Ob sie schon länger dort stand? Mit großen Schritten ging er auf sie zu. Norah lehnte neben der Tür an der Wand und reckte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen genießerisch den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Richard betrachtete sie, die Hände in den Hosentaschen, und schüttelte leicht verwundert den Kopf. Von Norah ging eine Faszination aus, die Helena bei all ihrer Schönheit niemals erreichen würde.
Als sie seine Schritte auf dem gepflasterten Weg hörte, öffnete sie die Augen und kam ihm entgegen.
„Richard?“, fragte sie leise, und der Blick, mit dem sie ihn musterte, barg einen versteckten Vorwurf. Hilflos zog Richard die Hände aus den Taschen und beide Schultern weit in die Höhe. Er wusste einfach nicht, wie er sich von nun an Helena gegenüber verhalten sollte, ohne sie zu brüskieren – oder Norah. Zu seinem Erstaunen löste seine offen gezeigte Ratlosigkeit einen von Norahs Heiterkeitsausbrüchen aus.
Lachend sah sie ihn an und Richard blieb nur ein reichlich verlegenes Grinsen übrig. „Das hast du selbst heraufbeschworen. Jetzt musst du sehen, wie du dich wieder aus ihren Fängen befreien kannst“, klärte sie ihn unbarmherzig auf.
„Ich war ein Idiot“, gestand er.
„Muss ich dir widersprechen?“
„Lieber nicht, Norah. Das wäre nicht ehrlich“, murmelte er und blickte zum Haupthaus hinüber. Oberhalb der Freitreppe, von der Sonne nahezu theatralisch angestrahlt, konnte er Helenas schlanke Gestalt erkennen. Sie beschattete mit einer Hand ihre Augen und blickte eindeutig in ihre Richtung. „Sie ist so nett, Dr. Barkley noch einmal herzubitten und einen Wagen für Susan und Leah zu besorgen.“
„Dann sollte ich dir hier wohl besser nicht demonstrativ um den Hals fallen und dich küssen, um die Besitzansprüche klarzustellen“, entschied Norah mit funkelnden Augen und verschwand flink im Haus.
„Nein, das solltest du wohl leider nicht“, murmelte Richard vor sich hin.
Callum beobachtete, wie die vornehme Equipage der Pirries den prächtigen, farbenfrohen Garten verließ und die Straße hinunterrollte. Zunehmend unsicher besah er sich die Personen, die hinter dem hohen schmiedeeisernen Zaun zurückgeblieben waren, bevor er den Blick wieder auf die schwarze Kutsche richtete. Ob er dem Gefährt folgen sollte? Wenn sich die drei Iren und der Deutsche noch auf dem Grundstück befanden, wer saß dann in der edlen Kutsche? Oder sollte er besser fragen, was?
Callum entschied sich dafür, Connors Anweisungen Folge zu leisten und vor allem Norah und den Deutschen nicht aus den Augen zu lassen. Immerhin hegte Connor den Verdacht, der Fremde könne an der Sache beteiligt sein und vielleicht das Bindeglied zwischen der jungen Frau und dem unbekannten Empfänger darstellen. Ihr Auftraggeber vermutete diesen allerdings in New York, was ja im Hinblick darauf, dass Norah als Stewardess bereits mehrmals in dieser großen amerikanischen Stadt gewesen war, durchaus Sinn machte.
Neugierig sah er zu, wie die vier Personen zu einem großen Holzschuppen gingen und dort mit einem weiteren Besucher der Pirries sprachen. Auch dieser sah – wie Norahs deutscher Bekannter – nicht gerade wie ein Lord aus, aber doch gepflegt und geschmackvoll gekleidet, obwohl er sich an großen, länglichen Transportkisten zu schaffen machte.
Callums Kopf fuhr ruckartig in die Höhe.
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