Der Klang des Verderbens
Villa. Nicht so kalifornisch-künstlich pastellfarben wie die von Ortiz, sondern vornehm, aus verwittertem Backstein. Sie war elegant und sprach von altem Geldadel.
»Diesmal ist es in Farbe«, bemerkte sie, als der besondere Blauton endlich in ihrem Gehirn ankam. »Nicht in Schwarz-Weiß.«
Das vermittelte einen viel anschaulicheren, realistischeren Eindruck. Himmel, sie hoffte inständig, dass es diesmal nicht so blutig wurde. Dieses Meer von Blut in Ortiz’ Haus hatte ihr fast den Magen umgedreht, obwohl es bloß schwarz statt rot ausgesehen hatte.
»Ob das wohl was zu bedeuten hat?«
Ja, das fragte sie sich auch.
Sie betrachteten das Haus von der Einfahrt aus, und Ronnie erhaschte einen kurzen Blick auf eine Hausnummer an der Frontseite. Die erste Zahl war eine Eins. Den Rest würde sie beim zweiten Durchgang mitbekommen. In diesem Augenblick hämmerte ihr Herz zu heftig, um den Film zu unterbrechen.
Füße liefen über Rasen. Das Gras war braun und trocken, und die Bäume trugen kein Laub.
Sie merkte sich dieses Detail.
Ein kalter Ort, irgendwo im Norden.
Er näherte sich dem Haus, doch plötzlich bog er ab. Um die Ecke, eine kleine Böschung hinunter, auf ein großes Nebengebäude zu. Er kam dort an – kein Schloss – und öffnete die Tür. Drinnen war es finster. Schwärze.
Die Bilder änderten sich schlagartig. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Ganze wie Echtzeit aussehen zu lassen, sondern sprang zwischen den Szenen, direkt zu den guten Stellen.
Nun ging er wieder zurück zum Haus, bloß dass er eine lange Leiter trug. Offenbar hatte er sie aus dem Schuppen geholt.
Er stellte die Leiter an der Hauswand auf. Ronnie konnte sich kaum vorstellen, dass ein solches Haus nicht mit einer Alarmanlage ausgestattet war – stieg er im ersten Stock ein, weil er annahm, dass nur die Fenster im Erdgeschoss verkabelt waren? Das war hoch gepokert, sicher konnte er sich nicht sein. Klar, die meisten Menschen machten sich die Mühe bei den oberen Fenstern nicht, aber riskant war es trotzdem.
Er kletterte hinauf. Hoch und höher, ein Handschuh griff über den anderen. Diesmal waren die Handschuhe nicht dünn und aus Gummi, sondern aus dickem, schwarzem Leder. Anscheinend war es eine kalte Nacht und sie sollten seine Haut vor dem eisigen Metall der Leiter schützen.
Ganz oben kam er zu einem Fenster mit einem Fliegengitter davor. Ein holperiger Bildschnitt, dann hielt er ein scharfes Messer in der Hand und schnitt damit das Fliegengitter auf. Noch ein Szenenwechsel – nun hatte er einen Glasschneider und einen Gummisauger in der Hand.
Ein alter Einbrechertrick, wie aus einem Krimi, bei dem nur ein Laie annehmen würde, dass es wirklich funktionierte, und es in der Praxis ausprobierte. Erstaunlicherweise klappte es tatsächlich. Er schnitt ein kreisrundes Loch in die Scheibe, verhinderte mit dem Gummisauger, dass das Glasstück nach innen fiel und seine Ankunft verriet. Dann griff er durch das Loch und entriegelte das Fenster.
Innerhalb von nicht einmal fünf Minuten nach Betreten des Grundstücks hatte er sich Zutritt zum Haus verschafft.
Schweinehund.
Er kletterte hinein, wobei jede Bewegung wegen der Bilderfassung im Sekundentakt abgehackt wiedergegeben wurde. Eine dünne Gardine wurde beiseitegeschoben, dann stand er in dem dunklen Zimmer, das von einer kleinen Lampe in der Ecke erhellt wurde.
Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und mit ihnen passte sich auch das Bild an.
Zum ersten Mal seit Beginn der Wiedergabe schnappte Ronnie schockiert nach Luft. Sykes nahm ihre Hand und drückte sie fest. Wahrscheinlich fürchtete er genauso sehr wie sie, was sie gleich zu sehen bekämen.
»Das tut er nicht«, flüsterte sie. »Gott, bitte sag mir, dass er das nicht tut.«
Er
konnte
nicht den kleinen Bewohner dieses hübsch dekorierten Kinderzimmers ins Visier nehmen.
Ein kleines Nachtlicht spendete gerade genug Helligkeit, um die niedliche, blassgelbe Tapete erkennbar zu machen. Ihr Reiseführer gewährte ihnen einen langen Blick auf die gerahmten Bilder an der Wand – Szenen aus den »Märchen der Mutter Gans«, mit kleinen Schweinchen und hübschen goldgelockten Mädchen, und …
»Humpty Dumpty«, flüsterte sie und erinnerte sich an die erste Nachricht des Mörders. Sie nahm sich vor, den zeitlichen Ablauf noch einmal zu überprüfen. Die Ortiz-Mail war zuerst angekommen, aber natürlich hatten sie gewusst, dass sie mit zeitlicher Verzögerung verschickt worden war. Mit größter
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