Der Klavierstimmer
und schützte die Augen vor einem eisigen Windstoß. Das war einer jener Momente, die dir mehr wert waren als ein ganzes Vermögen.«Wir schenken sie Ihnen», sagtest du und zogst mich fort. Wir schenken sie Ihnen!
Eitelkeit ist es nicht, was dich in solchen Momenten übermannt; auch nicht die Eitelkeit des Märchenprinzen. Die Reaktion wartest du nicht ab, es geht dir nicht darum, dich an der Überraschung zu weiden. Zu deiner Art von Märchen gehört es, zu verschwinden wie ein Geist. Einen Augenblick lang hast du die Welt aus den Angeln gehoben, das zu wissen genügt dir. Du bist, denkst du, ins Innerste einer anderen Person vorgestoßen, die du gar nicht kennst; durch einen Überraschungsschlag hast du alle Mauern der Sicherheit und Abwehr durchbrochen, um - so verrückt es auch klingen mag - mit ihr zu verschmelzen und dadurch zu beweisen, daß so etwas, gegen alle Erfahrung, doch möglich ist. Etwas, das nicht einmal mit mir möglich gewesen ist. Für diesen einen Augenblick hat die Hoffnung über die Erfahrung triumphiert.
Du bist etwas, was es eigentlich gar nicht geben kann: ein Solist der Nähe und des Gleichklangs. Dazu hat dich Maman gemacht. Und auf diese Weise ist es ihr schließlich doch noch gelungen, uns auseinanderzutreiben.
Auch über das Vergessen müssen wir sprechen.
Es war an einem regnerischen Morgen im vierten Jahr nach unserem Abschied. Ich hatte den Schirm vergessen und stand nun mit nassem Haar im Aufzug, der zum Schneidestudio hinauffährt. Durch die zugleitende Tür schlüpfte im letzten Moment ein Mann deines Alters herein. Auch aus seinem Haar tropfte es, und die Stirn war von nassen Strähnen verklebt. Der Lift hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, da fuhr sich der Mann mit der Hand wie mit einem Kamm durchs Haar, erst mit der rechten, dann mit der linken. Sofort sah ich dich, wie auch du dir durchs Haar fuhrst. Meistens geschah es ohne besonderen Anlaß. Es lag ein Hauch von Selbstverliebtheit in der Geste, doch im Grunde, dachte ich stets, war es einfach eine Bewegung, um dich deines Körpers zu versichern. Die ganze Fahrt über blieb ich bei dem inneren Bild, ich klammerte mich daran, denn wie so oft hatte mich die Sehnsucht in einem betont nüchternen Moment wie diesem erfaßt. Um ein Haar verpaßte ich das richtige Stockwerk. Ich saß schon lange vor dem Bildschirm, da sah ich dich und dein Haar, das durch die Finger glitt, immer noch vor mir.
Auf einmal erschrak ich: Ich wußte nicht mehr, mit welcher Hand du jene Bewegung zu machen pflegtest. Es war immer nur eine Hand, und immer dieselbe, dessen war ich mir sicher. Wir sind Linkshänder, sagte ich mir. Aber war es nicht so, daß du gerade bei dieser Geste die Gewohnheit brachst? Hatten wir nicht sogar darüber gesprochen? Krampfhaft horchte ich in die Vergangenheit hinein, ich schwankte hin und her und verbiß mich derart in die Frage, daß ich mit der Arbeit in Zeitnot geriet und Überstunden machen mußte.
Auf dem Nachhauseweg war ich so unglücklich wie schon lange nicht mehr. Noch immer wußte ich nicht, welche Hand, und war inzwischen sicher, es durch Erinnerung allein nicht entscheiden zu können. Das bedeutete: Ich hatte etwas, was dich betraf, vergessen; richtiggehend vergessen. Daß das geschehen könnte - ich hatte es nicht für möglich gehalten. Die Zeit, die ohne dich verfloß, sie schuf, ob ich es wollte oder nicht, eine neue Wirklichkeit, ja. Das hatte ich zu akzeptieren gelernt, und immer öfter konnte ich, statt es nur zu erdulden, auch dazu stehen. Doch bis heute hatte mir, ohne daß ich es wußte, als unverrückbar gegolten, daß ich nie - niemals - auch nur die kleinste Kleinigkeit unserer gemeinsamen Vergangenheit vergessen würde. In jedem Augenblick meines zukünftigen Lebens würde ich mühelosen Zugang zu jedem vergangenen Ereignis, jeder einzelnen Szene haben, mochte sie noch so unbedeutend gewesen sein. Anders hatte ich es mir nicht vorstellen können, unsere Trennung war nur erträglich gewesen, weil ich an die vollständige Verfügbarkeit der geteilten Vergangenheit geglaubt hatte. Und nun hatte sich an diesem einen Detail deiner Hand der Blick in die Vergangenheit getrübt. Ich verfluchte den Regen dieses Tages, denn ohne ihn hätte sich der fremde Mann nicht ins Haar gefaßt, und mir wäre (vorläufig noch) die Einsicht erspart geblieben, daß Erinnerungen, auch diejenigen an das Allerwichtigste, mit der Zeit an Klarheit und Eindeutigkeit verlieren.
Als ich an einem Kino vorbeikam, war
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