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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ich. Und: Dieser neue Tag, dieser Sonntag, er wird Mamans letzter Tag sein. Ich will nicht, daß er beginnt.
    In sehr nüchternem, sachlichem Ton sagte Maman nach einer Pause:«Wir haben euch nie etwas von der Pistole gesagt. Sie hatte zu Papas Sammlung gehört, es war die Waffe, mit der er mich schießen lehrte.»
    Sie zögerte und schien zu überlegen, ob sie das, was ihr eben durch den Sinn gegangen war, auch erzählen sollte.
    «War ich selbst es, die es lernen wollte? Oder war es nur Papas Wille? Natalie war dagegen. Sie regte sich schrecklich auf, wenn davon die Rede war. ‹Pervers›, sagte sie, ‹das ist pervers.› Ich weiß nicht, vielleicht sagte sie es aus Eifersucht. Jedenfalls: Papa … comment dire … drängte mir die Pistole auf, als wir hierherzogen. ‹Damit du mich nicht vergißt›, sagte er. Das habe ich Natalie nicht erzählt. Sie hätte sich geschüttelt. Es war … ich … ich wollte die Waffe nicht, aber vor den Kopf stoßen wollte ich Papa auch nicht. Ich tat sie ganz unten in einen Umzugskarton, vergaß aber, in welchen, und so kam es, daß Frédéric sie beim Auspacken fand. Als er sie mir wortlos zeigte, war sein Gesicht bleich und straff vor unterdrückter Wut, es erinnerte mich an sein Gesicht damals auf dem Schießstand.
    Das war einige Wochen nach der Reise zur Scala, noch vor dem Umzug in die gemeinsame Wohnung. Er hatte mich mit seinem Besuch überraschen wollen und erfuhr vom Dienstmädchen, daß ich mit Papa zum Schießen in den Club gefahren war. ‹Zum was ?› muß er gefragt haben, und er muß es in derart schneidendem Ton gefragt haben, daß Annette stotterte, als sie es später erzählte. Papa und ich, wir standen nebeneinander, als er den Schießstand im Sturmschritt betrat und Papa die Waffe kurzerhand aus der Hand riß. Die beiden Männer, die sich von Anfang an nicht gemocht hatten, standen sich gegenüber, ein bißchen war es wie bei einem Duell. ‹Sind Sie verrückt geworden? › sagte Frédéric so laut, daß es beinahe ein Schreien war. ‹Eine schwangere Frau!› Ich glaube, was Papa am meisten aus der Fassung brachte, war, daß Frédéric in der Anrede das Du rückgängig machte, das sie vor wenigen Tagen vereinbart hatten. Frédéric sah ihn mit einem seiner fürchterlich geraden, unversöhnlichen Blicke an. Dann machte er plötzlich einen Schritt auf die Brüstung zu, hob die Waffe und schoß das Magazin leer. Die Kugeln trafen ausnahmslos ins Schwarze. Er tat die Pistole auf die Ablage, legte mir den Arm um die Schulter und zog mich fort. Papa hat ihm diesen Auftritt nie verziehen.»
    Maman schwieg so lange, daß ich einmal mehr Angst bekam, sie könnte sich in der fernen Vergangenheit verlieren und ich erführe nie, was am Abend der Tat wirklich geschehen war. Dann wieder wünschte ich, daß genau das geschähe: daß es ihr gelänge, ferne Erinnerungen ganz und für immer zu einer imaginären Gegenwart zu machen, um fortan die wirkliche Gegenwart nicht mehr erleben zu müssen.
    «Die Pistole, die Vater im Umzugskarton fand - war es die mit dem Perlmuttgriff?»fragte ich schließlich, um ihre Gedanken auf die Zeit vor der Tat zurückzulenken. Erst als die Frage schon ausgesprochen war, fiel mir ein, daß ich von dieser Pistole nichts wissen durfte. Kaum hatte Maman davon zu sprechen begonnen, hatte ich die verbotenen Fotos vor mir gesehen: das Bild von Mamans gestrecktem Arm mit dem weiß schimmernden Griff der Pistole in der Hand; die Aufnahmen von GP, der ihr von hinten den Arm mit der Waffe stützte; das mühsam restaurierte Foto mit seinen Händen auf ihrem Busen.
    Maman sah mich an, zuerst nur überrascht, dann mit einem Blick, in dem sich Schrecken und Ärger mischten.«Woher weißt du …?»
    «Vater hat mir davon erzählt», log ich.«Es war vor langer Zeit, an einer Schießbude auf der Kirmes in Genf. Da hatten sie auch eine Pistole mit Perlmuttgriff. Vater traf so gut, daß wir die Regale mit den Trophäen hätten leer räumen können.»
    «Was hat er …?»fragte Maman, und es klang, als unterdrücke sie mühsam eine aufflammende Panik.
    «Nichts. Nur daß GP eine ähnliche Pistole besitze und daß er ein Waffennarr sei.»
    «Nichts vom Schießunterricht? Nichts davon, daß ich mit dieser Pistole schießen gelernt habe?»
    «Nein. Davon wußte ich nichts.»
    Wieder versank Maman in Schweigen.
    «Ja», sagte sie schließlich,«es war diese Pistole, die Frédéric beim Auspacken fand. Er wollte sie auf der Stelle nach Genf zurückschicken. Wir

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