Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
lassen.
    Dienstag nacht stand er leise auf und ging hinunter ins Arbeitszimmer. Er spielte Melodien aus Michael Kohlhaas . Er spielte so leise, daß die Töne manchmal wegbrachen und Lücken entstanden, aber ich erkannte trotzdem alles. Ich sah ihn vor mir, wie er den einstmals erlösenden Brief aus Monaco streichelte, um ihn am Ende mit steinerner Miene zu Staub zu zerstampfen. Nein, ich durfte mich aus unserem wortlosen Pakt nicht davonschleichen. Lisbeth, Kohlhaasens Frau, wäre so etwas nicht im Traum eingefallen.»
    Maman stutzte, und an der Nasenwurzel bildete sich die kleine Falte, die immer dann zu erscheinen pflegte, wenn ihr etwas Unerwartetes einfiel, das die Gedanken durcheinanderbrachte.
    «Vielleicht war uns nicht nur der rächende Vorsatz, sondern auch die Oper zum Kerker geworden», sagte sie schließlich.
    Über die letzten Tage vor der Tat hätte ich gerne mehr gewußt: Wie es bei Tisch war, beim Abwaschen, beim Zubettgehen und beim Aufwachen. Hatten sie noch eingekauft? Hatten sie Nachrichten gehört? Musik? Was hatten sie gelesen? Wie war es, wenn sie auf die Litfaßsäule mit dem zerfetzten Plakat zugingen? Wie hatte Maman die stillen Stunden des Tages zugebracht, bis Vater von der Arbeit kam?
    Doch es war nicht die Zeit für Fragen.
    Was ich weiß: Am Dienstag abend nahm Vater die persönlichen Sachen aus dem Steinway-Haus mit. Er sei an jenem Tag sehr still gewesen, sagte Liebermann, und auffällig sanft, auch mit wichtigtuerischen Kunden, die er sonst habe abblitzen lassen. Oft sei er herumgestanden, als wisse er nicht, was er da solle. Wie es ihm eigentlich gehe, habe er Liebermann unvermittelt gefragt. Es war das allererste Mal, daß er ihm eine Frage dieser Art stellte. ‹War nur so eine Frage›, muß er gesagt haben, als Liebermann sich verblüfft zeigte. Am frühen Nachmittag ging Vater, die Hände in den Hosentaschen, durch alle Räume, seine Haltung sei die eines Museumsbesuchers gewesen. Als er ging, gab er Liebermann und den anderen die Hand. ‹Adieu›, sagte er zu den erstaunten Kollegen. Ob er denn morgen nicht komme, fragte einer. ‹Doch, natürlich›, habe Vater gesagt.
    Draußen hatte der Tag begonnen, durch die Lücken zwischen den Vorhängen sickerte Licht. Es war mir danach, die Vorhänge fester zuzuziehen, oder besser noch: die Fenster zuzukleben. Doch meine Besorgnis war unnötig, Maman ließ sich nicht stören. Sie nahm jetzt Anlauf zum schwersten Teil des Berichts, der dem Abend der Tat galt. Von Satz zu Satz gewann ihre Stimme an Festigkeit, die Erinnerungen kamen mit großer Sicherheit und Genauigkeit, und bald sprach sie mit selbstbewußter, beinahe trotziger Nüchternheit. Die Gegenwart dieses Sonntagmorgens war fern, ferner als jede Gegenwart, die man hätte erdichten können. Der neue Tag vermochte Maman nichts mehr anzuhaben. Sie hatte mit ihm nichts mehr zu schaffen.
    «Am Mittwoch morgen wachte ich sehr früh auf, die Dämmerung hatte eben erst begonnen. Ich kam aus einem unbeschwerten, glücklichen Traum. Es war um Urlaub am Meer gegangen, um einen jener Urlaube, als ihr noch kleine Kinder wart.»Maman machte eine Pause, bevor sie hinzufügte:«Als die Dinge noch in Ordnung waren.»
    Als du unserer Liebe noch nicht mit Eifersucht begegnet bist, dachte ich. Als du noch nicht vom Willen getrieben warst, uns auseinanderzubringen. Nicht wir waren es, die Zerstörung anrichteten. Nicht wir. Es war das einzige Mal in jener Nacht, daß ich ihr einen Vorwurf machte, der einzige Moment, in dem der alte Groll aufflammte.
    «Ich schloß die Augen und drückte das Gesicht ins Kissen. Ich wollte zu den Traumbildern zurück. Es war sonderbar: Um daran zu denken, was dieser Tag bringen würde, war ich noch nicht wach genug, aber ich spürte, daß es ein schrecklicher Tag werden würde, das Ende von allem. Und so versuchte ich mich wegzuducken. Lange ging es nicht gut, bald lag ich wieder auf dem Rücken, und nun war mir alles klar. Wir werden es tun, dachte ich. Wir, nicht er . Und ich zählte die Stunden bis dahin. Frédéric schlief noch, ab und zu fuhr er sich leise stöhnend mit der Zunge über die trockenen Lippen. Das ist das letzte Mal, daß ich neben ihm aufwache, dachte ich. Ich war froh, daß er noch schlief. Es würde, das spürte ich, eine schwierige Begegnung sein, wenn er aufwachte, eine Begegnung, in der wir uns ansehen würden wie Vertraute, die sich plötzlich fremd sind und darüber in Verlegenheit geraten.
    Und so war es dann auch. Unter der Tür zum

Weitere Kostenlose Bücher