Der kleine Fluechtling
stand. Heiß schossen ihm die Tränen in die Augen, denn schon seit Tagen nagte es hungrig an seinen Magenwänden.
In derselben Sekunde fühlte er sich eng und weich umschlungen.
Wer hätte seine quellenden Tränen für etwas anderes als den Ausdruck reiner Wiedersehensfreude halten wollen?
»Ich hab’s immer gewusst. Hab’s gewusst, dass du kommst«, rief Minna, und ihre Umarmung drückte Wollis Erzeuger schier die Luft ab, während sie flüsternd hinzufügte: »Und ich hab vorgesorgt.«
Das hatte sie in der Tat.
Wollis Erzeuger war zwischen Schreyerbach und Ohe bereits bestens beleumundet. Mit Akribie hatte Minna an seiner Legende gebastelt und das Ergebnis im ganzen vorderen und hinteren Wald ausgesprengt.
Die Legende begann so: »Er war ein Held, ein stattlicher Held. Er war furchtlos und tapfer. Er kämpfte im Westen, im Süden und im Osten. Wegen seiner beachtlichen Größe gehörte er automatisch der Waffen- SS an.«
Wer Minna weiter zuhörte, erfuhr etliche Phrasen und Floskeln später, dass sein Name seit Sommer 1944 in der amtlichen Vermisstenliste aufgeführt war: »verschollen in Feindesland«.
Schon 1942, klagte Minna, hätten sie heiraten wollen. Aber weil die Geburtsurkunde ihrer Großmutter väterlicherseits einfach nicht aufzutreiben war, verweigerte man ihr den Ariernachweis und damit ihnen beiden die Heiratserlaubnis.
Wollis Erzeuger bemühte sich schon eine Weile erfolglos, Minnas klammernden Armen zu entkommen und näher an den Brotlaib heranzurücken, als ihm unverhofft der alte Bauer zu Hilfe kam. Der schnitt einen Kanten Brot ab und schob ihn über die rissige Tischplatte.
»Sä.«
Wollis Erzeuger griff gierig zu.
Endlich schien auch Minna zur Besinnung zu kommen. Sie zog ihren Liebsten auf die Eckbank und setzte sich neben ihn. Halb begraben unter ihrem wogenden Busen kaute er dann das harte Brot.
Der Bauer stemmte sich indessen an der Tischplatte hoch. Er glotzte eine Zeit lang auf Wollis Erzeuger hinunter, dann nahm er den Türrahmen ins Visier und gleich darauf wieder Wollis Erzeuger.
Plötzlich gab er sich einen Ruck, schlurfte zu einem der beiden taschentuchgroßen Fenster und machte sich über eine grobe Brettertruhe her, die darunterstand.
»Wo nacher is jetz der, hä, der Sakra«, murmelte er vor sich hin. »Ah … da hat er sich verschloffen, der Deifi.«
Minnas Vater kramte eine brüchige Messlatte hervor und legte sie am Türstock an. »Ghm, Meterachtzg, chr, Meterachtzg … ghm … hä … ghm …«, brummte er. »Da hat der sich buckeln müssn, runterbuckeln hat der sich müssn! Nachher hat der gut Meterneunzg, der Preiß von der Minna, der Sakra … Meterneunzg hat der Preiß, wenn’s langt, ghm ghm.«
Der Bauer schien beeindruckt. Er trat (ohne sich bücken zu müssen) durch den Türstock ins Freie. Von der Stube aus konnte Wollis Erzeuger erkennen, wie er draußen ein paar zögernde Schritte machte, dann aber wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Wollis Erzeuger konnte auch hören, was der Bauer daraufhin mit verblüffter Stimme von sich gab: »Mi leckst. A Ross. A Karrn dazu. Ghm … hä-ghm. Ob der Preiß der Minna bleibn kannt?«
Wollis Erzeuger blieb, und Minna ersann geschwind einen dramatischen Epilog zu ihrer Legende. Der ging so:
»Tödlich war der Held verwundet, von Verderben bringenden Granatsplittern getroffen, die ihm die Eingeweide zerfetzt hatten. Röchelnd lag er in seinem Blute. Der Feldscher hatte bloß einen hoffnungslos-mitleidigen Blick für ihn. Aber der heilige Oswald selbst griff ein und gab meinem Kind den Vater und mir den Mann zurück.«
Die Sache mit dem heiligen Oswald stieß bei den Waldhäuslern auf deutliche Skepsis. Aber wohl weil Minnas Schilderung gar so herzerweichend klang, hörten sie weiter zu. Denn das Ammenmärchen war noch nicht zu Ende.
»Kaum genesen, machte er sich auf die Suche nach den Seinen. Das ganze Land hatte er dabei zu durchqueren. Er zog mit seinem treuen Falben über unbarmherzige Berge, durch unzugängliche Täler. Er passierte reißende Flussläufe und tückische Sümpfe, sah allem Unbill unverzagt ins unmenschliche Auge, bis er seine Lieben in die Arme schließen konnte.«
Bei Weitem nicht alle Waldhäusler, Ilz- und Ohetaler zeigten sich von Minnas Darstellung so ergriffen, wie sie gehofft hatte. Vielleicht hatte sie doch zu dick aufgetragen. Aber letztendlich spielte das keine Rolle mehr, denn wie sich herausstellen sollte, hatte sie ihr Ziel erreicht.
Bald stapelten sich auf der Kredenz in
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