Der kleine Fluechtling
worden, weil die Schellers vergangene Woche eine Bleibe zugewiesen bekommen hatten und weil es Vater Scheller langsam besser ging.
Habendorfer Zeiten begannen plötzlich in Ulrichs Kopf herumzugeistern. Damals hatte seine Mutter nicht nur unerschütterlich an Gott geglaubt, sondern auch an die Jungfrau Maria und an jede Menge Heilige.
Ulrich gab das Grübeln auf.
Er faltete aus der Todesanzeige einen winzigen Dampfer mit schwarz umrahmtem Schornstein. Die Anzeige stammte von vorletzter Woche und hatte sich längst erledigt; der Verblichene lag bereits unter der Erde. Ob er in einem Mahagonisarg ruhte (dann hätte er hauptberuflich Schwarzhändler gewesen sein müssen) oder ob er nur in ein Laken eingewickelt begraben lag (weil der Sarg, in dem er zu Grabe getragen worden war, bloß geliehen war), spielte nach den Beerdigungsfeierlichkeiten keine Rolle mehr. Für die Schellers machte es erst recht keinen Unterschied. Sämtliche Todesanzeigen, die Mutter Scheller in alter Gewohnheit aus der Zeitung ausschnitt, hätte Ulrich auf der Stelle zu Dampfern verarbeiten können. Denn Vater Scheller tischlerte keine Särge mehr. Wie auch, ohne Säge, ohne Nägel und Hammer, ohne Holzbohlen, ohne Werkstatt. Und selbst wenn Holz und Werkzeug aufzutreiben gewesen wären, wenn Vater Scheller in der Baracke, wo die Schellers nun zu fünft auf zwei Komma fünf mal drei Metern wohnten, ein freies Eckchen zum Arbeiten gefunden hätte, was hätte das genützt?
»Tut keen gut, unnützlich hin- und rieberzudenken«, hatte Ulrich den Vater neulich zur Mutter sagen hören. »Een Scheller hat nie mehr keen Geschäft damit, wenn eener wegstirbt, weil ein Sarg, der wird in der Fabrik bestellt heutzutag.«
Ulrich setzte den Dampfer auf das Trockendock seiner hohlen Hand.
Wohin sollte das Schiffchen denn nun schwimmen? Auf putzigen Strudelchen vom Mühlbach zur Donau? Oder sollte es lieber im Fischwasser des alten Blaumeier kreiseln, inmitten von fetten Fischen? An die – so behaupteten Ulrichs Freunde aus dem Hafen – man nicht herankomme, ohne eine Ladung Schrot auf den Pelz zu riskieren. Ulrichs Freunde schworen Stein und Bein, dass der alte Blaumeier mit der Schrotflinte rund um die Uhr bei seinem Fischweiher Wache hielt.
»Dersticken soll er an seine stinkerte Hering, der rucherte Hund«, hatte Sabe getobt, als ihnen Walter ausmalte, wie schön knusprig man die Blaumeier-Fische über dem offenen Feuer braten könne.
Ulrich beschloss, seinen Dampfer noch mit einer Fahne aus einem Span und einem Eckchen Silberpapier zu schmücken, bevor er ihn in See stechen ließ.
Während er seine Taschen nach Stanniol durchforstete, fiel ihm ein, wie Sabe eines Tages – aus Wut, aus Hunger, aus Elend – Sabotagepläne gegen den Fischteichbesitzer Blaumeier geschmiedet hatte.
»A Schwarzpulverladung kriegt er eini in sein Bonzenweiher, der Zammraff, der dreckige!«, hatte Sabe gebrüllt. »Drei Pfund – drei Pfund Schwarzpulver ham mir leicht scho beieinander von die Gschosser und von die Kartuschner ausm Hafen unten. Da kann er dann zuschaun, der depperte Blaumeier samt seiner Flinten, wie seine Fisch hupfn, wies die Augenäpfe verdrehn, bevors platzn. Am End kann er die Fetzn zammklaubn.«
Bevor sich Sabe in weitere blutrünstige Details hineinsteigern konnte, war ihm Gerhard Schwarz, der Bandenchef, scharf über den Mund gefahren und hatte das Phantasiegemetzel beendet – bedauerlicherweise. Denn aus Sabes Redefluss hätte Ulrich eine Menge lernen können. Kaum einer beherrschte die niederbairische Mundart so meisterhaft wie Sabe.
Allerdings stand ihm Gerhard nur in wenig nach. »Halt’s Maul, Bosnigel, was hättn mir denn davon, wenn mir dem Blaumeier seine Fisch in die Luft sprengen tätn? Nix, gar nix, weil die Fisch nämlich hin wärn. Da kanns der Blaumeier gleich selber fressen, seine Fisch, weil weg is weg.«
»Das muss mer gewisslich underfertigen«, hatte Ulrich dem Bandenchef zugestimmt. »Beese Taten wirden ni een Glicke bringen …« An dieser Stelle hatte er sich unterbrochen, hatte durchgeatmet und vernehmlich hinzugefügt: »Wost recht hast, hast recht, Spezi.«
Ja, seit der Sache mit dem Kranrad hatte Ulrich die Mitglieder der Hafenbande zu Freunden, was jedoch nicht hieß, dass es immer einfach war mit ihnen. Anfangs brach die ursprüngliche Aversion mal bei dem einen, mal bei dem andern wieder durch. Ulrich musste sich täglich neu beweisen. Aber er ließ nicht locker und machte Fortschritte. Besonders was die
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