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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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der Guglerhofstube Leumundszeugnisse noch und noch. Sie waren dazu bestimmt, die Runen in den Achselhöhlen von Wollis Erzeuger zu kaschieren, das Blut an seinen Händen zu verwaschen.
    Wollis Erzeuger heiratete Minna, wie sie es sich gewünscht hatte, an Mariä Himmelfahrt, dem 15. August 1945.
    Sämtliche Gratulanten bestätigten ihm, dass der heilige Oswald – der Wundertäter vom Ohetal – alles vortrefflich gerichtet hatte und dass Minna gut daran getan hatte, ihm dafür ein Votivtaferl zu stiften mit zwei Kerzen darunter.
    Wollis Erzeuger nickte zerstreut. Dieser komische Bayerwaldheilige hatte wohl eher was angerichtet. Er hatte ihn in eine von Gott und der Welt abgelegene Kate gesteckt, zu einem grotesken alten Mann, einem dämlichen Weib und einem plärrenden Bankert; in eine Kate, in der ihn aus jedem Winkel Kargheit und Armseligkeit anstarrten. War er etwa den weiten Weg hierhergekommen, um elend zu verrotten?
    Doch diese Sorge hatte er sich umsonst gemacht, denn Minna wusste sehr genau, dass zum irdischen Glück Wohlstand gehört. Und sie hatte die Angel danach bereits ausgeworfen.
    Ein Gesuch erging an die Behörden, dessen Kernsatz folgendermaßen lautete: »Der tapfere Soldat hat seine blühende Gesundheit für das Vaterland hingeopfert. Es ist nur recht und billig, dass dieses Vaterland jetzt für den Kriegsversehrten und für die Seinen aufkommt.«
    Die Behörden sahen das augenblicklich ein, baten aber um ein ärztliches Attest. Wollis Erzeuger erfasste sofort, dass er mit Minnas Mär von leber- und nierenfressenden Granatsplittern vor einem Ärztekonsortium nicht durchkommen würde.
    »Und nu?«, fragte er seine Angetraute vorwurfsvoll.
    Minna bat sich ein wenig Bedenkzeit aus, und Wollis Erzeuger ließ zu, dass sie – auf der Suche nach einem Stück handfester Pathogenese – in seiner unter Verschluss gehaltenen wahren Vergangenheit herumstocherte. Dort fand sich tatsächlich der Faden, den sie ins Nadelöhr der Staatskasse einfädeln konnte: Ein Herzfehler hatte ihren Liebsten 1939 vor dem Frontdienst bewahrt! Gut, dieses Faktum bedurfte noch einer winzigen Korrektur: Das Herz – zuvor gesund – hatte erst im Kriegsdienst Schaden genommen.
    Wollis Erzeuger ließ sich ärztlicherseits bescheinigen, wie kläglich es schlug. Minna füllte stapelweise Anträge und Fragebögen für ihn aus.
    Nachdem der Erste der monatlichen Rentenbeträge auf seinem Konto gutgeschrieben war, atmete Wollis Erzeuger befreit auf: Mal sehen, was das Leben und jener komische Bayerwaldheilige noch zu bieten hatten.
    Wäre Tischler Scheller am Weihnachtstag 1944 doch nur ein wenig flinker gewesen, als er es in der Hand hatte, Wollis Erzeuger ein für alle Mal zu erledigen. Aber wer hätte damals ahnen können, dass sich sämtliche Schicksalsgötter zugunsten von Wollis Erzeuger verschwören würden?

5
    Im östlichen Niederbayern hieß die Tageszeitung nicht mehr »Breslauer Anzeiger« oder »Reichenbacher Tagblatt«, sie hieß »Passauer Neue Presse«.
    Die PNP nahm 1946 ihr Erscheinen wieder auf, nachdem der Krieg vorübergegangen war und die Not dagelassen hatte. Sie erschien in Regen und Zwiesel als »Bayerwaldbote«, im Landkreis Deggendorf als »Deggendorfer Zeitung«.
    »Gott, der Herr über Leben und Tod, rief nach langer, schwerer Krankheit …«, las Ulrich und glotzte verdattert auf die großformatige Todesanzeige. Gott war krank gewesen? Wann, wie? Hatte er sich deshalb nicht um seine Schäfchen kümmern können, sodass sie hungern und frieren mussten?
    Skeptisch beugte sich Ulrich ein zweites Mal über den schwarz umrandeten Text, las den Satz zu Ende.
    »… unseren lieben Vater, Bruder und Onkel zu sich in die Ewigkeit.«
    Erst als sich Ulrich den Wortlaut noch mal im Zusammenhang ansah, ging ihm auf, dass nicht Gott, sondern der Verstorbene schwer krank gewesen sein musste.
    Gott selbst litt nie unter Erkrankungen, natürlich nicht! Doch damit fehlte ihm auch jegliche Entschuldigung für sein Versagen. Er hatte alles, was geschah, geschehen war und geschehen würde, komplett zu verantworten. Unbestritten.
    Falls es ihn gab. Daran konnte man glauben oder auch nicht.
    Ulrich fragte sich, ob seine Mutter noch an Gott glaubte, wo sie doch unaufhörlich seufzte: »Nu nee, nee, s gibt keen Herrgott nich, sonst misst mer nit so elendig sein.«
    Vage streifte Ulrich der Gedanke, dass Mutter Schellers Seufzer eher Appell sein könnte als verlorener Glaube. So gesehen wäre ihr provokanter Anruf sogar erhört

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