Der kleine Fluechtling
endlich fort.
Anna hockte schmollend in ihrer Wohnung über dem Kohlenlager und verkündete wiederholt, sie würde künftig keinen Fuß mehr auf den Himmelberghof setzen. Dieser Entschluss hielt bis Mariä Himmelfahrt.
Mit moralinsauer verkniffenen Lippen erschien Anna am Nachmittag des 15. August (sie war von Willi und seiner zukünftigen Frau allerfreundlichst dazu aufgefordert worden) in der guten Stube am Himmelberg zum Kaffee, um miesepetrig zu nicken, als das Brautpaar den Heiratstermin bekannt gab, und beizeiten wieder abzudampfen.
»Die Hochzeitsfeier kann mir gestohlen bleiben«, sagte sie zu ihrem Mann.
Dessen ungeachtet rückte das festgesetzte Datum näher.
Zwei Wochen vor dem Termin änderte Anna ihren Standpunkt abrupt und begann sogar, darauf hinzufiebern. Das rührte daher, dass per Paketpost aus München ein gelbes Ripskleid mit Spitzenbesatz für Gerda angekommen war. Quer über das Einschlagpapier schlängelte sich in Endlos-Sequenz der Aufdruck »Geh zu Konen, es wird sich lohnen«.
»Oh ja«, seufzte Anna hingerissen, »das hat sich freilich gelohnt, dass die Tina das teure Pflaster am Marienplatz nicht gscheut hat. Spendabel sinds, die zwei, die Tina und der Michel.«
Gerda hielt ehrfürchtig still, als ihr das Kleid über den Kopf gezogen wurde.
»Mei, das steht dir aber gut«, sagte Anna mit Genugtuung. »Das sitzt wie angegossen. Kein Vergleich zu dem Pfusch von der Liesl.« Überzeugt setzte sie hinzu: »Da werns aber schaun alle.«
Derart imponierend eingeripst würde Gerda bei Willis Hochzeit alle Blicke auf sich ziehen, ja selbst die Braut in den Schatten stellen. Und Anna wollte noch ein Übriges tun, um ihre Tochter ins rechte Licht zu rücken.
»Wennst du in dem schönen Kleid für das Brautpaar auch noch ein Sprücherl aufsagen tätst«, sagte sie zu dem Kind, »dann wärst du der Glanzpunkt vom Tag. Alle tätens dich bewundern und am Schluss sogar Beifall klatschen.«
Erwartungsgemäß versprach Gerda bereitwillig, ein Gedicht auswendig zu lernen und es beim Hochzeitsmahl aufzusagen.
Anna fand den geeigneten Vers in einem alten Readers-Digest-Heft. Zwischen »Heut, an eurem Ehrentag« und »auf all euren Wegen Glück und Segen« fügten sich ein halbes Dutzend Reimpaare zusammen. Sie würden ausreichen, Gerda die ungeteilte Aufmerksamkeit zu sichern.
Es kam sogar noch besser, als Anna es sich ausgemalt hatte.
Willi hob Gerda mitten auf den Brauttisch, wo sie zwischen dem Brautstrauß und der Hochzeitstorte posierend ihr Gedicht fehlerfrei aufsagte.
»Die Gerti, die Gerti«, ließ sich Tina nach dem Applaus zu einer gewagten Prophezeiung hinreißen, »die werden wir noch auf dem Laufsteg erleben.«
»Hast recht«, kam es zustimmend von Rita. »Die Gerti is das geborene Fotomodell, das kann man jetzt schon sehn.«
»Ein Fotomodell wird die Gerti, jawohl«, echote Max.
Wolli gaffte mit weit offener Schnauze.
Doch Onkel und Tanten sollten bald merken, wie sehr sie sich geirrt hatten, und einsehen, dass mit ihrem Auftritt auf dem Brauttisch der letzte Vorhang von Gerdas Karriere als Mannequin bereits gefallen war.
Denn unübersehbar bildete Gerdas Körper im Lauf der folgenden Jahre Merkmale aus, die ihr den so euphorisch prophezeiten Berufsweg gründlich versagten.
Ihre bleibenden Zähne wiesen, nachdem sie sich endgültig etabliert hatten, eine deutliche Krängung auf, ihre Hüften setzten zu viele Fettpolster an, und ihre Körpergröße sollte nie über eins sechsundfünfzig hinausgelangen.
Irgendwann würde auch Anna einsehen müssen, dass es schwierig werden könnte, für Gerda einen Prinzgemahl zu finden.
3
Wie man sich bettet, so liegt man, sagte sich Wollis Erzeuger und faltete die »Passauer Neue Presse« zusammen, die ihn täglich wissen ließ, was in der Bundesrepublik und auch außerhalb vorging.
Dieser Tage berichtete sie vom Goggomobil, von der Mecki-Frisur, vom vollautomatischen Geschirrspüler und von der Fünftagewoche, die der DGB gestern, am 28. April 1955, gefordert hatte.
Wollis Erzeuger konnte sich gratulieren. Er schwamm in der warmen Strömung des deutschen Wirtschaftswunders, und er wusste, welche Schalter er umlegen musste, um Minna sorgend und hegend, beschirmend und pflegend täglich neu auf sich einzuschwören. Solange er ihr regelmäßig ein reichliches Quantum Honig ums Maul schmierte, konnte er hier am Lusenhang – keinen Katzensprung vom Eisernen Vorhang entfernt – wie im Paradies leben.
Es fiel ihm nicht immer leicht, aber es
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