Der kleine Fluechtling
allen denkbaren zerebralen Insuffizienzen in der Mainkhofener Anstalt zubrachte.
Gerdas Großmutter zuckte jedoch nur entmutigend die Schultern.
Da holte Tina aus und verpasste dem Kind eine Ohrfeige. Leider fruchtete diese Therapie nichts weiter, als dass sie bei Anna neuerliches Kreischen entfesselte.
»Jetz bringen mir dich erst einmal ins Haus rein, Gertilein«, entschied die Großmutter. »Da legst dich aufs Sofa, und dann wird das schon wieder.« Sie nahm das Kind an der Hand und wollte es die Treppe hinaufführen, aber Gerda rührte sich nicht von der Stelle. Kurzerhand lud sich Tina das Kind wieder auf die Arme und trug es über die Granitstufen hinauf. Sie trat durch die offene Haustür und eilte durch den Flur.
Der Schrei brach aus Gerda heraus, als Tina sie im Halbkreis schwenkte, um durch die Stubentür zu steuern. Tina fuhr zusammen und torkelte gegen die Mauer, wobei ihr Gerda aus den Armen rutschte.
Das Kind kam unverhofft gelenkig auf die Füße. Ein Ärmchen suchte sich seinen Weg aus glänzend roten Fetzen und reckte sich anklagend in Richtung Haustür.
»Is ja gut, Gertilein, wir wissens ja, dass du da runtergfallen bist«, versuchte Tina zu beschwichtigen und wollte das Kind in die Stube schieben.
Aber Gerda achtete nicht auf sie. Störrisch hielt sie auf den Spalt zu, den die offene Haustür mit der Flurwand bildete. Ihr Ärmchen stieß dorthinein ins Dunkel, und man ahnte mehr, als man sah, dass sich ein spitzes Zeigefingerchen in Renates Schulterknochen bohrte.
Vielleicht hätte Tina das Schlimmste verhindern können, wenn sie Gerda schleunigst in die Stube geschleift, aufs Sofa gebettet und so getan hätte, als wäre das Kind nur gründlich durcheinander. Doch Tina zögerte eine Spur zu lang.
Anna stand bereits in der Flez. Sie schlug die Haustür zu, sodass sich der Spalt, in den Gerdas Arm wies, in eine weiträumige Ecke verwandelte. Und dort kauerte – eng an die Wand gedrückt – Renate.
»Mistbankert!«, gellte Anna und packte das Kind am Kragen. Als sie anfing, Renate zu schütteln und zu beuteln wie ein Hund das ergatterte Kaninchen, wurde es für Liesl höchste Zeit, ihr eigenes Versteck in der Nische neben dem Bauernschrank aufzugeben.
»Sie kann nix dafür!«, schrie Liesl. »Die Renate is bloß hinter der Gerti gstanden und hat drauf gwartet, dass sie endlich auf die Gred runtersteigt. Ich war dabei, hab der Renate grad noch die Haarschleife gebunden.«
»Glaub ich gern«, schrie Anna zurück, »dass du mitgmischt hast!«
»Hab ich nicht«, plärrte Liesl. »Und die Renate hat der Gerti höchstens ein ganz kleines Schubserl geben, damit sie endlich weitergeht.«
Damit war es heraus. Renate hatte Gerda geschubst.
»Bestimmt ohne böse Absicht«, sagte Tina in dem Bestreben, die Wogen zu glätten, »ganz bestimmt ohne böse Absicht. Die Renate hat doch nur wollen, dass Gerti die Treppe frei macht. Wie hätte sie denn ahnen können, dass Gerti gleich kopfüber runterstürzen würde? Nie und nimmer hätte sie das ahnen können. Aber sie hat sich schuldig gefühlt, nachdem das Unglück geschehen ist, und deshalb hat sie sich rasch hinter der Tür versteckt.«
Anna Langmoser schüttelte auf Tinas Auslegung hin nur den Kopf, packte Renate noch fester am Nacken und ließ sie tanzen wie eine Marionette.
Da versuchte Liesl, Anna in den Schwitzkasten zu nehmen.
Womöglich wäre es zwischen den Halbschwestern zu einer handfesten Prügelei gekommen, hätte die Mutter der beiden nicht mit einer blechernen Schöpfkelle an den Eisenriegel der Haustür geschlagen.
»Schluss! Aus! Aufhörn! Anna, du kümmerst dich jetzt um die Gerti und um sonst nix.«
Ihre Autorität zeigte Wirkung. Liesl lockerte den Griff. Anna ließ Renate los, die ein paar torkelnde Schritte rückwärts machte.
Tina legte Anna den Arm um die Schultern. »Komm, wir waschen der Gerti den Dreck ab und ziehn ihr was Frisches an. Danach kriegt sie ein warmes Hollersaftl und einen Himbeerlutscher.«
Genau so wurde es gemacht. Es änderte allerdings nichts daran, dass der Prangertag ins Wasser gefallen und Gerdas Kleid ruiniert war.
Anna forderte drakonische Bestrafung für Renate. Sie gab keine Ruhe, bis ihr wenigstens Wiedergutmachung zugestanden wurde. Liesl sollte den Kleiderstoff ersetzen, was sie notgedrungen auch tat. Anna sollte nie erfahren, dass ihr die Mutter das Geld dafür zusteckte.
Bis die Langmosers umzogen, kehrte auf dem Himmelberghof kein bisschen Ruhe mehr ein. Am 1. Juli waren sie dann
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